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"Russisches Labor der Moderne": Utopie der fliegenden Städte

Bauhaus an der Moskwa: Der Martin-Gropius-Bau erinnert an die russischen Wchutemas-Werkstätten.

2019 feiert das Bauhaus seinen 100. Geburtstag, ein Jahr darauf das sowjetrussische Wchutemas, die Wchutemas, um genau zu sein, denn das ist die Abkürzung für „Höhere künstlerisch-technische Werkstätten“. Also genau das, was das Bauhaus nicht so sehr von Anfang an sein wollte als vielmehr im Lauf der Zeit wurde. In der wilden Zeit des Bürgerkriegs und der unendlichen Not, die daraufhin in Sowjetrussland und der Ende 1922 gegründeten Sowjetunion herrschten, bildete sich eine Lehranstalt, die die Zukunft in den Blick nahm, die auf diese Zukunft hin entwarf und konstruierte, und deren Lehrer und Schüler am Ende – 1930 wurde die Schule aufgelöst – erkennen mussten, dass sie einer Utopie nachgejagt waren, für die in der politischen Realität kein Platz blieb.

Das Zungenbrecherwort Wchutemas wird hin und wieder ausgesprochen, wenn vom Bauhaus die Rede ist, um zu zeigen, dass es in ganz Europa vergleichbare Strömungen gab, vergleichbare Wünsche nach Erneuerung. Jetzt aber ist erstmals in Berlin Gelegenheit, die Werke von Wchutemas zu sehen. Rund 250 Arbeiten, meist Zeichnungen auf Papier, hat der Martin-Gropius-Bau aus dem Moskauer Architekturmuseum ausgeliehen.  Sie stellen die damalige Arbeit plastisch vor Augen.

Weniges, fast nichts konnte realisiert werden, was an den Wchutemas erdacht, gezeichnet und diplomiert wurde. Das gibt den Arbeiten die Leichtigkeit des Visionären. Wo sonst hätte ein aus Glaskugel und Drähten gespanntes Etwas entstehen können wie das „Lenin-Institut“ von Iwan Leonidow, heute als Ikone der Architekturmoderne bewundert! Dabei war es die Abschlussarbeit von 1927, ohne jede Aussicht, die dazu notwendigen „vertikalen und horizontalen Transportsysteme“, das „System von Aufzügen und Transportbändern“ im Lande selbst vorzufinden.

Nikolai Kolli, der später als Kontaktarchitekt Le Corbusiers das bedeutende Gebäude des Zentrosojus mitgestaltete, entwarf schon 1922 einen Stadionkomplex, wie er von den Ausmaßen her erst Jahrzehnte später möglich wurde. Bedeutende Lehrer unterrichteten an der Schule, die selbst in einem Jahrhundertwendebau an der belebten Mjasnitzkaja- Straße untergebracht war, ohne je eines der zukunftsweisenden Gebäude beziehen zu können, die da doch andauernd ersonnen und in Zeitschriften wie „SA“ oder „Zeitgenössische Architektur“ veröffentlicht wurden (es gibt übrigens vorzügliche Reprints der wichtigsten Jahrgänge). Herausgegeben wurde dieses Ende der zwanziger Jahre wichtigste Forum zumal der Konstruktivisten von Moissej Ginsburg und Alexander Wesnin, die beide an den Wchutemas lehrten. Ginsburg ist für das Narkomfin-Kommunehaus bekannt – es verrottet allmählich in Moskau, allen Beteuerungen zur Erhaltung zum Trotz –, Wesnin hat den größten aller Arbeiterkulturpaläste geschaffen, der sich im „proletarischen“ Südosten der russischen Hauptstadt nach wie vor im Gebrauch befindet.

Es gibt, anders als beim Bauhaus, keine „Linie“, auf die sich die Wchutemas festlegen ließen. Strenge Konstruktivisten stritten sich mit Produktionskünstlern, und daneben gab es eine Fraktion derer, die ihr Handwerk noch an der zaristischen Akademie des untergegangenen Petersburg gelernt hatten und klassizistische Kapitelle kopierten. Sie sollten alsbald die Oberhand gewinnen; aber das ahnte niemand in den 1920er Jahren. An den Wänden des Gropius-Baus hängen die Zeichnungen friedlich nebeneinander, als ob es die Konflikte nie gegeben hätte, in denen sie als Material, als Argumente dienen mussten. Fotografien der Klassen, der Lehrer und ihrer Studenten, liefern das friedliche Bild von Gemeinschaften, die sich in ihren Zielen einig sind. Doch welchen Zielen?

An den realen Auseinandersetzungen der sich bildenden sozialistischen Gesellschaft hatten die Wchutemas wenig Anteil, das muss man vielleicht deutlicher hervorheben. „Fliegende Städte“ oder ein „Restaurant unter einer Klippe“ – um nur zwei Examensarbeiten zu zitieren – trafen sich nicht eben mit den Notwendigkeiten einer gerade einmal dem Hunger entkommenden Gesellschaft. Das schlimme Schicksal indes ist weniger, dass die Entwürfe damals nicht haben verwirklicht werden können. Schlimmer ist, dass sie im Orkus des stalinistischen Bannfluchs verschwanden, für immer, bis sie heute nur mehr als Relikte einer Utopie bestaunt werden, die nie hat Fuß fassen dürfen.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen: etwa Alexander Rodtschenkos „Arbeiterklub“, den er 1925 für die Pariser Ausstellung der Arts décoratifs – daher die Abkürzung „Art déco“ – ersann und der vollständig demontierbar war, eine veritable Messearchitektur. Der in den vergangenen Jahrzehnten verschiedentlich rekonstruierte „Klub“ ist auch hier im Modell zu sehen. Es habe sich gezeigt, so Rodtschenkos Lebensgefährtin Warwara Stepanowa, „dass dynamisch konstruierte Gegenstände immer größere Verbreitung finden“ – was für ein Irrtum. Verbreitung fanden, ab dem ersten Fünfjahrplan 1929, Hochöfen und Wasserkraftwerke, Fabriken aller Art. Nur dafür hatten die Wchutemas keine Entwürfe geliefert. Sie waren in all ihren Untersuchungen zu Raum und Form vom Weg der Gesellschaft abgekommen. Unter Stalin triumphierten diejenigen, die ihre solide Akademie-Ausbildung dem „Woschd“, dem neuen „Führer“ dienstbar machen konnten, mit Kapitellen und Gesimsen und allem Dekor, das seit jeher die Architektur der Herrschaft ziert. Bernhard Schulz
Martin-Gropius-Bau, bis 6. April

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