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Sir Simon Rattle beendet diesen Sommer seine Zeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, nach 16 Jahren.

©  Stephan Rabold

Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker: Ein Kessel Hochdruck

Lutoslawski, Brahms und eine Uraufführung von Jörg Widmann: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker mit ihrem Abschiedstournee-Programm in Berlin.

Wenn’s sein muss, geht’s auch ohne Dirigent. Der Schlagzeuger gibt den Takt vor, und die Philharmoniker mutieren zur Bigband. Hey, wird das hier ein Late-Night-Konzert? Tür auf, Applaus brandet auf, Simon Rattle kommt und winkt ab, nein, hier steht ganz andere Musik auf dem Programm. Die Uraufführung des letzten von Rattle in Auftrag gegebenen „Tapas“-Appetizers, ein „Tanz auf dem Vulkan“ aus der Feder von Jörg Widmann. Erst fünf Tage zuvor ist das Stück fertig geworden, ein tatsächlich flammendes Werk voller Eruptionen, zerfetzter Melodik und züngelnder Läufe, gespickt mit Takt- und Tempowechseln, wahnwitzig, „fast durchgängig schnell, dicht, atemlos“, wie Widmann selbst sagt. Büchners Satz „Der Mensch ist ein Abgrund“ habe das katastrophische Werk inspiriert. Widmann entfesselt eine mal großstädtisch, mal endzeitlich anmutende Kakophonie – bis die Triangel wieder den Swing vorgibt und Rattle kurz vor Schluss abgeht.

Ein Nachtstück und zugleich eine Humoreske zum Abschied: Mit dem „Tanz“ gehen der nach 16 Jahren scheidende Chefdirigent und die Philharmoniker auf ihre letzte gemeinsame Europatournee. Nur schade, dass Rattle und das Orchester so wenig sichtlichen Spaß daran haben, wie es überhaupt ein seriöser, ja schwergängiger Abend wird, trotz Publikumsjubel am Ende.

Witold Lutoslawskis Symphonie Nr. 3 und die Erste von Brahms stehen auf dem Programm – und Rattle gibt den Dompteur. Breitbeinig steht er da, ist auch bei Lutoslawskis zerklüfteten Gebilden zumeist mit dem Zusammenhalt beschäftigt. Neben den ad-libitum-Miniaturen, wenn Flügel und Horn einträchtig zusammengehen, Klarinette und Fagott einander zögern umkreisen oder die kleine Terz in allen Geschmacksrichtungen getestet wird, müht sich Rattle vor allem um Ausdrucksintensität. Ein Kessel Hochdruck: Das zeitigt irre Effekte, wenn die Streicher ein ohrenbetäubendes Insektengesumm aoder sämtliches Melodieschlagwerk ein mechanisch-rasendes Geklöppel veranstalten. Aber das dauerhafte Forcieren erscheint wenig sinnfällig – und auch den Musikern nicht sonderlich einzuleuchten.

Die Geburt der Orchestermusik aus dem kollektiven Schrei? Rattle dirigiert mit weit aufgerissenem Mund, immer wieder, auch Brahms. Gepanzerte Musik, grelle Farben, bis zum Zerreißen gedehntes Legato, ein titanischer, an Spannung kaum noch zu steigernder Brahms. Jeder Akkord beschwört eine imaginäre Glut herauf, als gelte es zu überspielen, dass das Feuer erkaltet ist. Und im Andante singen Konzertmeister Daniel Stabrawa und Hornist Stefan Dohr auf verlorenem Posten.

Jetzt geht es, wie gesagt auf Tournee, bevor ab Mitte Juni zum Kehraus in der Philharmonie und zum allerletzten Waldbühnenkonzert geladen wird. „Tanz auf dem Vulkan, das ist die relativ präzise Jobbeschreibung eines Philharmoniker-Chefdirigenten“, sagt Komponist Widmann. Man wünscht Sir Simon und dem Orchester, dass die Glut zuletzt noch einmal kräftig angefacht wird.

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