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Stalin in Gori. Im Dezember 2017 feierten seine Anhänger den 138. Geburtstag des Diktators.

© AFP/Vano Shlamovd

Sowjetzeit in Georgien: Das Trauma des Großen Terrors

Georgien feiert das Jubiläum seiner Republikgründung im Jahr 1918 und beklagt die Sowjetzeit als „Okkupation“. Doch das Bild der Vergangenheit bleibt grobkörnig.

Im georgischen Kulturministerium in der Hauptstadt Tiflis hängen Fotografien bedeutender Künstler des Landes, versehen mit ihren Lebensdaten; darunter sechs Portraits von Schriftstellern. Bei fünf von ihnen lautet das Todesjahr „1937“.

1937 war das schlimmste Jahr des 1936 entfachten und 1938 abflauenden „Großen Terrors“ Stalins. Nicht, dass es zuvor oder danach keinen Terror in der Sowjetunion gegeben hätte, mit willkürliche Verhaftungen, Lagerhaft und Massenerschießungen. Aber im Jahr 1937 raste der Terror derart durch das kleine Land am Südhang des Kaukasus, dass es sich danach nicht mehr wiedererkannte.

Die geistige und künstlerische Elite wurde nahezu ausgerottet, die Bauernschaft unter der Losung „Beseitigung der Kulaken als Klasse“ dezimiert, nahezu jede Familie hatte Verhaftete zu beklagen, von denen die wenigsten zurückkehrten. Die Akteure und auch nur Zeugen der ersten georgischen Republik, gegründet 1918 und drei Jahre später von der Roten Armee niedergewalzt, waren bereits in den zwanziger Jahren umgebracht worden, und wer zufällig überlebt hatte, fiel unweigerlich dem Terror der dreißiger Jahre zum Opfer.

Von Unterdrückung bis zur schieren Vernichtung

Auf die großen Ereignisse seiner nationalen Geschichte kann sich Georgien – wie alle vormaligen Unionsrepubliken – leicht verständigen, seien sie heroisch oder tragisch. In diesem Jahr 2018 steht das hundertjährige Jubiläum der Republik an. Georgien steht ganz im Zeichen der ersten, kurzlebigen Republik, es wird sich im Herbst als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentieren. Jetzt fand eine Studienfahrt der „Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“ nach Georgien statt, um die Spuren der Stalin-Zeit und des Zweiten Weltkriegs aufzusuchen. Als Pfadfinder dienten Vertreter von „SovLab“, dem „Soviet Past Research Laboratory“, das einen einsamen Kampf um die Erinnerung der gern verdrängten Geschichte führt.

Als erste „sozialdemokratische Bauernrepublik“ hatte der marxistische Theoretiker Karl Kautsky in einem 1921 erschienenen Buch die georgische Republik bewundert. Da ging das Experiment im Südkaukasus mit dem Einmarsch der Roten Armee bereits gewaltsam zu Ende. Die Bolschewiki holten sich das Land zurück, das sich gerade erst aus der Konkursmasse des Zarenreiches gelöst hatte.

Die sieben Jahrzehnte währende Sowjetzeit hat sich Georgien als eine Geschichte der Repression eingeprägt, von der Unterdrückung bis zur schieren Vernichtung. Doch sind die konkreten Umstände, gar die Orte der Terrormaßnahmen seltsam abwesend. Man kennt sie nicht und will sie nicht kennen. Geschichte reduziert sich auf den Namen des Urhebers allen Terrors: Stalin. Aber Stalin war ein Landsmann, ein Georgier.

In Georgien wütete die Tscheka schon in den zwanziger Jahren

Josef Dschugaschwili, der sich 1912 „Stalin“ – der „Stählerne“, nannte, hat in Tiflis von 1900 bis 1906 gelebt, in einem unscheinbaren, bis heute nahezu unveränderten Haus. Ein paar Straßen weiter fällt ein aus der Straßenfront zurückgesetztes Gebäude im Stil des „Neuen Bauens“ auf; es ist heute der Sitz des Nationalen Olympischen Komitees. Tatsächlich wurde es 1931 als Amts- und Wohnsitz des georgischen KP-Chefs Lawrentii Berija erbaut, der hier bis 1938 amtierte.

Auch Berija war Georgier. Von Tiflis wechselte er 1938 nach Moskau, als Volkskommissar für Innere Angelegenheiten. Für die damals krakenhaft wuchernde Behörde steht die russische Abkürzung NKWD, die zugleich deren gefürchtetsten Teil meint, die Geheimpolizei, die von Lenin gegründete „Tscheka“.

In Georgien wütete die Tscheka schon in den zwanziger Jahren. Viele Republikaner von 1918, dazu die Aristokratie und weite Teile der georgisch-orthodoxen Priesterschaft wurden hingerichtet. Das Okkupationsmuseum, Teil des Nationalmuseums am eleganten Rustaweli-Boulevard, der Flaniermeile von Tiflis, breitet die Geschichte des Terrors aus. Eindrucksvoll wird dessen Praxis veranschaulicht, mit eisernen Gefängnistüren und langläufigen Hinrichtungspistolen.

Doch die Namen Stalins und seines Mordbürokraten Berija findet der Besucher allenfalls im Kleingedruckten der spärlichen Erläuterungen. Repression erscheint als Naturgewalt, die über das Land kam, erzählt an den Schicksalen prominenter Opfer. „In Wirklichkeit nimmt Georgien eine Doppelrolle ein: Opfer und Täter zugleich“, wie Dieter Boden, mehrmaliger Leiter von UN-Missionen, in seinem soeben erschienenen Buch „Georgien. Ein Länderporträt“ betont (Chr. Links Verlag, Berlin. 200 S., 18 €).

Über die zarenzeitliche Neustadt von Tiflis sind die Adressen des Terrors verstreut. Das Haus der Tscheka war Mordzentrale von 1921 bis 1938, als der Umzug in ein weit größeres Gebäude anstand. Seither dient das abgenutzte Gebäude wieder als Wohnhaus. Die ausgetretenen Treppen führen zu Türen, hinter denen Geständnisse erfundener Taten erfoltert wurden. Im Keller fanden Hinrichtungen statt. Ein alter Hausbewohner, nach den Geschehnissen befragt, beklagt sich lediglich über mangelnde Reparaturen am Gebäude.

Stalin-Museum, Stalin-Statue, Stalin-Allee

Noch weiter zurück geht die Zeitreise im Städtchen Gori. Es ist der Geburtsort Stalins. Der Bahnhof bietet ein würdiges Entree, samt Wartesaal nur für den „Woschd“, den Führer – den Stalin freilich nie betreten hat. Eine Statue vertritt ihn im blitzblank gewienerten Ambiente, während draußen Hunde über die menschenleeren Bahnsteige streunen. Berija ließ 1937 – schon wieder dieses Jahr – das armselige Geburtshaus als Denkmal in die radikal gesäuberte Ortsmitte rücken. 1957 erst kam das pompöse Stalin-Museum hinzu, erbaut in der kaukasischen Variante des Zuckerbäckerstils. Beidseits der Stalin-Allee – so heißt sie unverändert – reihen sich schmucke Geschosswohnungsbauten, nicht die eintönigen Plattenbau-Kisten der Breschnew-Zeit.

Im Bahnhof von Gori findet sich ein Wartesaal ausschließlich für Stalin mitsamt seiner Statue.
Im Bahnhof von Gori findet sich ein Wartesaal ausschließlich für Stalin mitsamt seiner Statue.

© Bernhard Schulz

Das Stalin-Museum umschifft die „Repressionen“, indem es sich vor allem auf die Geschichte des „Großen Vaterländischen Krieges“ konzentriert. Immerhin findet der „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ Erwähnung, wie die russische Bezeichnung des Hitler-Stalin-Paktes lautet. Nicht im großzügigen Ausstellungsparcours, sondern halb versteckt und unter der breiten Treppe gibt es ein Extra-Kabinett zum Terror, in dem Vergrößerungen unscharfer Fotografien von Massenerschießungen zu erkennen sind. Es gibt in der Tat fast keine fotografischen Zeugnisse des Terrors. Dessen Örtlichkeiten waren auf Anweisung der NKWD-Leitung strikt geheim zu halten, die Spuren sorgfältig zu verwischen.

Anderntags geht die Fahrt in eine weitere Vergangenheit, die der Industriemacht Sowjetunion. Rustawi, dessen Fabrikkomplexe mithilfe vor allem deutscher Kriegsgefangener aus dem Boden gestampft wurden, bietet heute eine postindustrielle Ruinenlandschaft. Vom Stahlwerk, das sich in den siebziger Jahren mit seinen westdeutschen Konkurrenten messen konnte, stehen nur mehr Gerippe.

Es gab Erschießungen in unbekannter Zahl

Über die deutschen Kriegsgefangenen wird überall in anerkennenden Worten gesprochen; sie hätten „gute Arbeit“ geleistet. Auch im Wohnungsbau wurden sie eingesetzt. Rustawi besitzt Theater, Parteihaus, breite Alleen – quasi ein georgisches Eisenhüttenstadt. Erst die abseits der sorgsam geplanten Kernstadt in die Landschaft gestellten Plattenbauten korrespondieren mit dem Elend der verfallenen Industrie, die einst 30 000 Arbeiter beschäftigte. Das Stadtmuseum schwelgt in Erinnerungen an die große Zeit der Siebziger, als es Urkunden, Auszeichnungen und Beförderungen regnete, das individuelle Glück der Breschnew-Ära.

Stalins Heimatstadt hat ihm ein Museum gewidmet, vor dem das Geburtshaus in einer Art Tempel bewahrt wird.
Stalins Heimatstadt hat ihm ein Museum gewidmet, vor dem das Geburtshaus in einer Art Tempel bewahrt wird.

© Bernhard Schulz

Wo aber blieben die deutschen Kriegsgefangenen? Mehr als eine Million starben in sowjetischer Gefangenschaft, auch in Rustawi. Es gab Erschießungen in unbekannter Zahl. Irgendwo außerhalb des Fabrikgebietes, wo sich Betontrümmer im vernarbten Gelände türmen, soll sich laut SovLab ein Massengrab befinden.

Die schwäbischen Siedler wurden 1936 als „Volksfeinde“ dezimiert

Noch weiter entfernt liegt eine halb verlassene Siedlung, die einst den Namen „Katharinental“ trug. Die schwäbischen Siedler, Anfang des 19. Jahrhunderts ins Land gerufen, wurden bereits 1936 als „Volksfeinde“ dezimiert. Die Überlebenden hat man im Herbst 1941 deportiert, wie alle Volksgruppen, die Stalin als mögliche „Verräter“ verdächtigte und nach Asien verfrachten ließ. Wer auch nur vage deutsche Wurzeln besaß, ging nach 1990 in die Bundesrepublik. Der verfallene Friedhof trägt die letzten Spuren; dazu metallene Obelisken auf den Gräbern von Angehörigen der Roten Armee, die unweit im Kaukasus gekämpft haben.

Im Haus des Schriftstellerverbandes in Tiflis, der einstigen Stadtvilla eines deutschen Unternehmers der Zarenzeit, kommen die Literaten nach wie vor zusammen. Im Obergeschoss endete das Leben des hochgeschätzten Poeten Paolo Iaschwili. Von einer Sitzung des Jahres 1937, auf der er „Selbstkritik“ üben sollte – das bekannte Vorspiel zur längst verfügten Verurteilung –, rannte der Dichter nach oben und erschoss sich mit einer Schrotflinte zwischen ausgestopften Jagdtrophäen von Löwe und Tiger. Die stehen unverändert an ihrem Platz. Sie haben Tragödien gesehen und bleiben stumm.

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