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Tag 6 auf der Berlinale: Heulen an der unsichtbaren Grenze

Was macht unser Leben besonders? Dass wir uns besonders anstrengen? Der neu aufgeführte DDR-Film „Denk bloß nicht, ich heule“, zeigt, worauf es ankommt – egal, was die anderen denken.

Eine Kolumne von Robert Ide

Okay, ich hatte diesen sehr auffälligen Anzug an, weil ich noch was anderes vorhatte am späteren Abend: Hose und Jackett vollgepunktet mit roten Herzen. Okay, ich rannte damit sehr auffällig quer über den Alexanderplatz, um noch im letzten Moment in diesen Schwarz-Weiß-Film reinzukommen; schließlich schließen sich bei der Berlinale die Türen immer pünktlich. Ich hetze also als rasendes Herz über den Alex, muss kurz abstoppen, weil eine Straßenbahn den Laufweg kreuzt, da ruft mir ein Mann zu: „Are you an artist?“ – „Nee“, antworte ich. „I’m only a Berliner.“ Er mustert meinen gemusterten Anzug: „Only?“

Was macht unser Leben besonders? Dass wir uns besonders anstrengen, um so zu werden wie viele andere? Dass wir besonders wichtige Dinge sagen, besonders richtige Sachen machen, besonders besondere Menschen um uns haben? Vielleicht wenigstens das: dass wir unser Leben intensiv ausleben.

Das Leben ist wie ein Kinderhemd: kurz und beschissen.

Der Vater zur Hauptfigur Peter im Film „Denk bloß nicht, ich heule“

Danach ist Ende. Der Anfang ist schon mal dramatisch. Der todkranke Vater liegt auf dem Sterbebett und haut bei den letzten Schnäpsen seines Lebens alles raus, was er seinem Sohn noch zu sagen hat: „Das Leben ist wie ein Kinderhemd: kurz und beschissen.“ Der Junge solle mit seiner Zeit nur eines anfangen: leben, leben, nochmals leben. So, wie er will.

Erst wurde der Film umgeschrieben, dann verboten

Lernen, lernen, nochmals lernen. Das aber das Motto des kleinen Landes, in dem dieser Film spielt und in dem ich aufgewachsen bin: der DDR. „Denk bloß nicht, ich heule“ ist ein schwarz-weißer Theaterfilm über die inneren Kämpfe, die junge Menschen in einer Diktatur ausfechten müssen. Den meisten versuchte auch ich als Kind auszuweichen, bei anderen brachte ich das nicht übers Herz und durch mein Hirn.

Peter macht es anders. Im Film wird er lieber zum Halbstarken und Außenseiter. Das grandios ehrliche Werk musste 1965 auf Geheiß der Staatspartei SED dreimal umgeschrieben werden, bevor er am Ende doch ganz verboten wurde.

Nun wird er in der Retrospektive wieder gezeigt: der Kampf eines jungen Mannes um seinen eigenen Kopf – und um ein Mädchen. Anne eifert ihrem bäuerlichen Vater nach im Kämpfen, aber auch im Austarieren des eigenen Lebens in einer getrimmten Gesellschaft. Peter versucht ihr zuliebe anzukommen, aber endet immer wieder dann, wenn die Grenzen unsichtbar werden in Zwischentönen, in einer doppelten Sprache. Er will nicht das sagen, was alle hören wollen. Er will leben.

Am Ende steht Peter geprügelt und zerrissen auf einer Bühne, vor ihm sitzt die ganze Dorfgesellschaft, darunter Anne und ihr Vater. Er kämpft um sie und um sich, er muss weinen. Und ruft den anderen zu: „Denkt bloß nicht, ich heule.“ Irgendwas fehlt bisher bei dieser Berlinale: Ich hab bei noch gar keinem Film geheult.

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