Inspektion eines gelebten Lebens: „The Who“ feiern in der Berliner Waldbühne eine ganze Generation
14.000 Fans erleben eine magische Nacht. Ein Wiederhören mit den großen Rockopern „Tommy“ und „Quadrophenia“ mit Orchester und Band in ausgelassener Stimmung.
Die Spannung bleibt bis zum Schluss. Werden „The Who“ den Klassiker „My Generation“ noch einmal spielen, der einst die Geburt der Forever-Young-Generation markierte?
Damals vor mehr als 50 Jahren klang die Zeile „Hope I die before I get old“ so wild, anarchisch, befreiend, bevor Pete Townsend mit Schwung seine Gitarre zerstörte, was damals eine Art Markenzeichen von ihm war.
Es ist ein schöner, milder Sommerabend in der Waldbühne. Viele Zuschauer tragen T-Shirts von Who-Konzerten verschiedener Epochen. Los geht’s mit einigen der besten Stücke aus „Tommy“, der ersten weltweit berühmten Rockoper: „Overture“, „1921“, „Amazing Journey“, „Sparks“.
Kraftvolle Stimmen, kreisende Arme
Roger Daltrey macht den Tambourine-Mann mit einem Instrument in jeder Hand, Pete Townsend bearbeitet souverän seine Gitarre. Das Aussehen der beiden trägt Patina, aber die Stimmen sind kraftvoll wie eh und je. Ein kleines Wunder, Pete Townsend ist jetzt 78 und Roger Daltrey 79 Jahre alt. Das Filmorchester Babelsberg harmoniert so innig mit dem Sound von „Tommy“, als hätten sie nie etwas anderes gespielt.
Zak Starkey, ganz in Gelb, drischt auf die Drums ein mit der kraftvollen Eleganz eines Akrobaten. Sein Vater Ringo Starr war gegen eine Rock-Karriere, von seinem Patenonkel Keith Moon bekam er als Kind das erste Schlagzeug geschenkt. Und das war ganz offensichtlich sehr gut so.
Die Gitarren bleiben unzerstört
Berlin schenken sie die erste Wiederbegegnung mit der „Acid Queen“ auf ihrer Tournee „The Who Hits Back“. Bei „Pinball Wizard“ hält es viele nicht mehr auf den Sitzen. Und als der Song „We’re not Gonna Take It“ die jubelnde Stelle erreicht „Listening to you, I get the music”, da führt Pete Townshend auch wieder seinen berühmten Windmühlenanschlag vor und lässt die Arme kreisen wie früher.
Dass jemals so alte Menschen in ein Rockkonzert gehen, geschweige denn dort auf der Bühne stehen würden, war in den Anfangsjahren schlicht außerhalb jeder Vorstellungswelt.
Wir geben unser Allerbestes.
Pete Townshend
Und den wenigsten wird klar gewesen sein, dass Pete Townshend sich an der Kunstschule mit autodestruktiver Kunst befasst und deshalb angefangen hat, am Ende der Konzerte die Gitarren zu zerdeppern. Um die 3000 Instrumente hat er im Laufe seiner Karriere gekillt, aber das ist vorbei.
Sie würden wohl nie wieder so klingen, wie als sie jung waren, sagt er an einer Stelle: „Aber wir geben unser Allerbestes“. Nach „Who Are You“, einer Nummer, die das Publikum begeistert mit dem rhythmischen Wortstampfen „Who, Who, Who“ unterstützt, die Zeigefinger in die Höhe gereckt, folgen „Eminence Front“ und das harmonisch melodiöse „The Kids Are Alright“.
Die rockige Suche nach der Identität
Danach spielt die Band erstmal ohne Orchester weiter. Auch „You Better you Bet“ wird hier zum Mitsing-Song. Es folgen „The Seeker“, „Won’t Get Fooled Again“, „Behind Blue Eyes“.
Bei den Who ging es immer auch um Identität. Die Suche nach dem eigentlichen Ich passt zur Pubertät so gut wie zum Rest des Lebens. Immer mal wieder kommen selbstironische Einlagen. Roger Daltrey kann mit seiner Stimme Grimassen schneiden. Beide Who-Gründer scheinen unglaublich Spaß an der Sache zu haben.
Dabei hat Pete Townshend früher gesagt, dass er Bühnenauftritte gar nicht so mag. Sein kleiner Bruder Simon steht ebenfalls auf der Bühne, spielt Gitarre, singt im Hintergrund mit. „Tattoo“ geht weit zurück in die Anfänge.
„The Rock“, Diana und Obama
Der dritte Part, wieder mit Orchester, ist der Rockoper „Quadrophenia“ gewidmet. „The Real Me“ endet mit einem fast grellen Schrei nach „Real“, der sanft in ein verblassendes Echo verklingt. „I’m One“ singt Pete Townshend, der Jahre seines Lebens in einem Verlag gearbeitet hat, mit außergewöhnlicher Leidenschaft.
Dann noch „5.15“, und es wird Zeit für die große Instrumentalnummer „The Rock. An den Schirmen seitlich der Bühne flimmern Bilder aus der jüngeren Geschichte auf: Der Tod von Elvis, Dianas Hochzeit, 9/11, Barack Obama, der Tod der Queen … „The Who“ waren immer schon da.
Damals in den Anfängen umgab die Band der Mythos von Woodstock wie ein Heiligenschein. Längst ist aus Pop Kultur geworden. „Love, Reign O’er Me“ trifft auf eine ausgelassene Stimmung. „Baba O’Riley“, die Hommage an zwei Inspirationsquellen von Pete Townshend, bringt noch eine furiose Violinen-Einlage der Künstlerin Katie Jacoby. Nach immerhin gut zwei Stunden ist plötzlich Schluss.
Tatsächlich müssen sie „My Generation“ gar nicht spielen. 14.000 Menschen feiern an diesem magischen Abend ausgelassen die Inspektion des Lebens, das sie gelebt haben. Niemand hier ist gestorben. Und niemand ist alt geworden.
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