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Dichtet ab sofort wieder in Schwäbisch-Hall. Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomat im Marbacher Literaturmuseum der Moderne.

© DLA Marbach

Welttag der Poesie: Verwinkelte Häuser über tiefem Grund

Die Unesco hat den 21. März zum Welttag der Poesie bestimmt. Auch in Berlin wird er dieses Jahr wieder gefeiert.

Von Gregor Dotzauer

Als die Unesco 1999 auf ihrer Pariser Konferenz beschloss, den 21. März zum Welttag der Poesie auszurufen, ging es ihr nicht um die vielfältigen Erscheinungsformen von Lyrik an sich. Die damalige Resolution bekennt sich in gräulichem Bürokratenenglisch vielmehr zum Gedicht als Rettungsinstrument für bedrohte Sprachen – und Reservoir erzieherischer Effekte. Es gehe, heißt es darin, um eine „gesellschaftliche Bewegung hin zur Anerkennung der Werte der Vorfahren“, die „jungen Menschen helfen könnte, Grundwerte wiederzuentdecken“, indem die „Akzeptanz der Sprache als Faktor der Sozialisierung und Strukturierung des menschlichen Individuums“ wächst.

Geht’s noch abschreckender? Und: Ist das die Perspektive, aus der man dem Vergnügen und der oft nicht davon zu trennenden Mühe gerecht wird, die das Lesen, Schreiben und Rezitieren von Gedichten quer durch alle Zeitalter begleitet hat? Die Praxis des Welttags hat sich mit solchen verfehlten Erwartungen Gottseidank nicht lange aufgehalten. Einmal im Jahr macht nun eine Gattung auf sich aufmerksam, die in der öffentlichen Wahrnehmung schon lange nicht mehr zu Erkenntnis und Selbsterkenntnis taugt, obwohl ihr Denken in Bildern es jederzeit mit der begriffsfixierten Philosophie aufnehmen kann.

Der Psychoanalytiker C.G. Jung hat die menschliche Seele einmal als Gebäude beschrieben, „dessen oberes Stockwerk im 19. Jahrhundert errichtet worden ist; das Erdgeschoß datiert aus dem 16. Jahrhundert, und die nähere Untersuchung des Mauerwerks ergibt die Tatsache, dass es aus einem Wohnturm des 11. Jahrhunderts umgebaut worden ist. Im Keller entdecken wir römische Grundmauern und unter dem Keller findet sich eine verschüttete Höhle, auf deren Grund Steinwerkzeuge in der höheren Schicht und Reste der gleichzeitigen Fauna in der tieferen Schicht aufgedeckt werden.“

Dieses Bild, das der Philosoph Gaston Bachelard in seinem gleichnamigen Klassiker zu einer „Poetik des Raumes“ ausgebaut hat, vermittelt auch etwas von den Schichten, über denen die zeitgenössische Poesie errichtet ist – auch wenn sie hier nur ein Spoken-Word-Fensterchen aufstößt und dort frech gereimt Metaphernmief auslüftet.

Das Frappierende ist, dass jenseits aller intellektuellen Spitzenleistungen ein geradezu animalisches Bedürfnis nach Poesie zu herrschen scheint, das sich, mehr oder weniger in den Dreck gekratzt, an den unwahrscheinlichsten Orten austobt. Ein Beispiel sind die bei Matthes & Seitz erschienenen „Gedichte aus Guantánamo“. Gefangene, die noch nie zuvor einen Vers geschrieben hatten, suchten in der Poesie Zuflucht – ob sie diese auswendig lernten oder mit Apfelstielen auf Styroporbecher kritzelten.

Lyrische Kassiber

Schon vor einigen Jahren sammelte Werner von Koppenfels lyrische Kassiber für eine Anthologie „Aus den Kerkern Europas“. Hier waren mit dem kurzzeitig zum Tode verurteilten François Villon oder dem auf mehreren griechischen Inseln eingesperrten Kommunisten Jannis Ritsos zwar einige der Größten vertreten. Von den Guantánamo-Insassen unterscheidet sich ihr Ausdrucksbedürfnis vor allem durch den Grad der sprachlichen Gestaltung.

Welche Breite an Tönen heute herrscht, zeigt jetzt die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Welttag herausgegebene Liste der „Lyrik-Empfehlungen 2023“ (lyrik-empfehlungen.de).  Je zehn deutschsprachige und übersetzte Titel warten auf Leser. Ob man zu Christian Lehnerts mystisch-theologisch angehauchter Wiederverzauberung der natürlichen Welt neigt („opus 8“) oder sich mit Ernest Wichner an dessen rumäniendeutsche Ursprünge begeben will („Heute Mai und morgen du“), ob man mit der Ungarin Ágnes Nemes Nagy eine der bedeutendsten, fürs Anthropozän gerüsteten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts kennenlernen will („Mein Hirn: ein See“) oder in Gestalt der Russin Maria Stepanova eine prägende Figur des 21. („Mädchen ohne Kleider“): Zusammen mit Videoclips auf YouTube wird man hier fündig.

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