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Provokant. Boris Luries Farb- und Papier-Collage "A Jew is Dead" von 1964.

© Boris Lurie Art Foundation

Wolf Vostell und Boris Lurie im Kunsthaus Dahlem: Betreten auf eigene Gefahr

Gewalt und Konsum: Eine Berliner Ausstellung zeigt die wütende Aufarbeitung der Shoah durch die Künstlerfreunde Wolf Vostell und Boris Lurie.

Metallenes Knirschen, piksiges Rascheln? Wie soll man die grellen Geräusche beschreiben, die entstehen, wenn man durch Wolf Vostells Installation „Thermo-Elektronischer Kaugummi“ geht. Vom Kaugummi, dessen Schmatzgeräusche mittels eines an die Wange geklebten Mikrosensors in den Lautsprecher eines mitzunehmenden Koffers übertragen werden, gar nicht zu reden.

Der Raum ist düster, draußen hängt ein Schild „Betreten auf eigene Gefahr“. Stacheldrahtzäune links und rechts lassen KZ-Assoziationen aufkommen. Das gruselige Gefühl, auf 13 000 Löffeln und Gabeln zu gehen, wird vom „Juici Fruit“-Gummi konterkariert, das als Symbol einer alles banalisierenden kapitalistischen Lebensweise fungiert. Ja, es sind Analogien der Siebzigerjahre, mit denen der Künstler hier arbeitet. Trotzdem hat die Installation absolut nichts von ihrer dreisten Wucht verloren. Im Gegenteil: Die Bilder von Gewalt und Tod wirken tragisch aktuell, auch wenn der Krieg in der Ukraine täglich andere liefert.

Schocktherapie, aber künstlerisch

Es ist eine künstlerische Schocktherapie, die das Kunsthaus Dahlem in der Ausstellung „Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Luri“", den Besucher:innen verordnet, die auch am Eingang vor „verstörenden Bildern“ gewarnt werden. Vor Aufnahmen von halb verhungerten Konzentrationslager-Häftlingen und Leichen nämlich, die die Künstlerfreunde Vostell und Lurie immer wieder in ihre wütende Aufarbeitung des Holocaust einweben.

Wolf Vostell, geboren 1932 und Mitgründer der Fluxus-Bewegung, gehört zu den bedeutenden deutschen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Boris Lurie wird 1924 in Leningrad geboren, wächst in Riga auf und erlebt als Jude die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie am eigenen Leib.

Die Frauen seiner Familie werden ermordet, der Vater und er ins Konzentrationslager verschleppt und 1945 befreit. Lurie wandert nach New York aus, wo er 1959 die NO!art-Bewegung ins Leben ruft und bis zu seinem Tod 2008 als Künstler und Autor lebt.

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Gegen den arrivierten Kunstbetrieb, gegen die Selbstgefälligkeit der Konsumgesellschaft und vor allem: gegen das Vergessen. Mit diesen Stoßrichtungen sind Lurie und Vostell Brüder im Geiste. Vostell wirkte mit seinen Skulpturen, Objektkästen, Gemälden, Collagen und Happenings zeitlebens als Stachel im Fleisch der Bundesrepublik. Legendär ist der Sturm der Entrüstung, der sich 1987 in Berlin gegen seine einbetonierten Cadillacs am Rathenauplatz erhebt.

Als Vostell und Lurie sich 1964 bei einem Happening kennenlernen, funkt es sofort. Und ein fruchtbarer, auch in 94 Briefen dokumentierter künstlerischer Austausch beginnt. Das erzählt Dorothea Schöne, die Leiterin des Kunsthauses Dahlem. Schöne hat die Ausstellung auch als Hommage im Vorfeld des 90. Geburtstages des 1998 verstorbenen Vostells initiiert, der sich im Oktober jährt.

Kämme des Todes. Wolf Vostells Siebdruck „Combs“ von 1968.Foto: Boris Lurie Art <QA0><EL-1>Foundation, VG Bild-Kunst, <EL-1>Bonn 2022

© Boris Lurie Art Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Dass Hakenkreuze und Judensterne, die Boris Lurie in seinen Collagen und Objekten aggressiv in Szene setzt, ausgerechnet hier, im ehemaligen Atelierhaus des NS-Bildhauers Arno Breker als eine Art Anti-Propaganda der zerstörerischen NS-Ideologie prangen, zieht der eindrücklichen Schau noch einen doppelten Boden ein.

Schon, dass die Stadt Berlin Wolf Vostell die heute als Café genutzte hohe Halle 1984 als Atelier auf Lebenszeit überträgt, gleicht einer Art Geisteraustreibung. Genauso wirkt nun die Bandbreite seiner Bildhauerarbeiten und Gemälde, die am ehemaligen Ort ihres Entstehens zu sehen ist.

Betonpfeiler stürzt auf ein Gewirr aus Leibern

Das sieben Meter lange Triptychon „Shoah 1492 - 1945“, das zugleich den einst aus Spanien vertriebenen Juden wie den vom NS-Regime Ermordeten gewidmet ist, ist der zentrale Hingucker. Vostell, der auch in Spanien, in Malpartida de Cáceres lebte, lässt auf dem 1997 entstandenen Gemälde einen Betonpfeiler auf ein abstraktes Gewirr von Leibern stürzen. Trotz der Wucht von Symbolik, Farben und Formen erinnert die Arbeit recht deutlich an Picasso. Da nehmen sich Vostells Objekte, in die der Pionier der Videokunst auch Fernseher einbaute, viel eigenständiger aus.

[Kunsthaus Dahlem, Käuzchensteig 12, bis 30. Oktober, Mi-Mo 11-17 Uhr]

Die beschränkte Halbwertzeit der Technik erweist sich allerdings als konservatorische Herausforderung, wie Dorothea Schöne sagt. Die Objektkästen mit den Minifernsehern, die ursprünglich aktuelle Nachrichten mit Abbildungen der Neuen Reichskanzlei oder einer zerbombten Stadt als Kontinuum menschlicher Gewalttätigkeit verknüpften, haben eine Dimension eingebüßt, weil die Dinger nicht mehr laufen. Da erweisen sich die mit Übermalungen von Zeitungsausschnitten arbeitenden Bilder „Stalingrad“ und „8. Mai 1945“ als zeitloser.

Anders als der Kollege Vostell arbeitet Boris Lurie nicht mit Abstraktionen, sondern kombiniert in seinen Collagen eins zu eins Aufnahmen von Pin-up-Girls der Sechziger mit KZ-Bildern. In beiden Fotografien, die Menschen zu Objekten degradieren, manifestieren sich nach seiner Überzeugung unmenschliche Systeme. Dass die nicht Geschichte sind, sondern fortbestehen, ist eine Überzeugung, die er mit Wolf Vostell teilt.

Nur dass sich der Jude Lurie mit dem heißen Herzen des Betroffenen über die Banalisierung der Shoah empört. Inklusive des beißenden Witzes, der ihn „From a happening, 1945 – by Adolf Hitler“ unter das Bild eines halb nackten, klapperdürren KZ-Häftlings schreiben lässt. So krass sieht es aus, wenn zwei Künstler sich nach dem Zivilisationsbruch des millionenfachen Mordes weigern, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren.

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