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Nicht selten kommt es in Taiwan zu Erdbeben. Hier ein Fischer an der Pazifikküste.

© Foto: Imago/Imaginechina-Tuchong

Wu Ming-Yis Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“: Der nächste Tsunami kommt bestimmt

Wu Ming-Yi war als erster Taiwanese für den Booker-Preis nominiert. Nun erscheint erstmals ein Roman von ihm auf Deutsch. Ein stilles Mahnmal des Anthropozäns.

Laut Taiwans Zentralem Wetteramt bebt die Erde auf der Pazifikinsel rund 19.000 Mal im Jahr. Gut 1000 Erschütterungen sind für den Menschen spürbar, manche nur als sachtes Zittern – der Kaffee kräuselt sich in der Tasse, mehr nicht. Dann wieder stürzen Häuser ein, es sterben Menschen. Seit dem Jahr 1900 gab es mindestens 96 Erdbeben, die als katastrophal eingestuft wurden.

Der Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“ des taiwanesischen Schriftstellers Wu Ming-Yi beginnt dagegen mit einem Beben, das ein Leben rettet.

Alice will sterben. Sie ist Literaturdozentin an einer Universität in der Stadt H. an der Ostküste Taiwans – wohl Hualien, wo Wu Ming-Yi neben seinem anderen Wohnsitz Taipeh lebt – und sieht nach dem Unfalltod ihres Mannes und ihres Sohns keinen Sinn mehr im Leben.

Doch am Tag, an dem Alice sich umbringen will, bebt die Küste, der Pazifik durchspült Alices Erdgeschoss, ihr Haus am Meer wird zum Haus im Meer. Im Durcheinander findet sie ein verwaistes Kätzchen, nimmt sich seiner an – und beschließt, vorerst nicht zu sterben, vielleicht nur dem Tier zuliebe.

Wu Ming-Yi wurde 1971 in Taoyuan geboren und gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller Taiwans.

© privat

Atile’i will leben, aber er glaubt, dass er tot ist. Der 15-Jährige ist die zweite Hauptfigur und entsteigt einer scheinbar anderen Welt. Auf der (fiktionalen) Insel Wayowayo, bewohnt nur vom gleichnamigen Volk, werden zweitgeborene Jungen als Jugendliche in einer Barke zur See und somit in den Tod geschickt. „Geduldig wie die Muscheln harrten sie aus im Strom der Zeit, und wenn sie starben, taten sie es mit einem Lächeln auf den Lippen, das dem der Meeresschildkröten ähnelte“, heißt es in dem für die Atile’i-Kapitel typischen sagenhaften Stil.

Dem Jungen geht es anders. Er treibt im Pazifik umher und landet auf einer halbtransparenten Insel, die ihrerseits in Bewegung ist. Die Seevögel, die sich von ihr ernähren, verenden. Atile’i glaubt sich in einer Vorhölle.

Der Roman, im Original schon 2011 erschienen und nun als erstes von Wu Ming-Yis Büchern ins Deutsche übersetzt, erzählt die beiden Stränge in elegischem Ton und oft im Modus des magischen Realismus.

Lange erfahren wir nicht, was die Protagonisten miteinander zu tun haben, außer dass sie insulare Leben fühlen. Während Atile’i auf seinem Eiland nach Nirgendwo driftet und den „Seelen aller Zweitgeborenen“ lauscht, arrangiert sich Alice mit dem Überlebthaben.

Ein riesiger Tsunami aus Müll nähert sich Taiwan

Reporter kommen nach H. und berichten von einem Tsunami, der sich auf Taiwans Ostküste zubewegt: Ein gigantischer Müllstrudel von 1,6 Millionen Quadratkilometern, viereinhalb Mal so groß wie Deutschland, sei auseinandergebrochen. Den „Großen Pazifischen Müllteppich“ gibt es wirklich, auch wenn er weniger ein solides Gebilde ist als ein loser Vortex, der sich aus bis zu 50 Jahre altem Abfall zusammensetzt.

Für Wu, der auch Umweltaktivist und Professor für sinophone Literaturen ist, ist er die zentrale Metapher: eine riesige Insel aus Müll als stinkendes, zerstörerisches Mahnmal des Anthropozäns.

Auf ihr gelangt Atile’i nach Taiwan, wo Alice auch ihn aufnimmt wie einen kleinen Bruder. Sie verständigen sich auf ihren Sprachen, zeigen einander ihre Zivilisation – sind weniger allein. Und immer wieder taucht ein mythologisch anmutender Facettenäugiger auf, der bei Unglücken erscheint. Er hilft nicht, er beobachtet nur, wie ein stoischer Zeuge des Schicksals. „Zusehen ohne einzugreifen. Allein dazu bin ich da“, sagt er einmal.

Weil so ein Mensch sein sollte? Alles sehend, mit tausend Augen, aber nichts verändernd? Als Philologe hat Wu mehrere Bücher zum taiwanesischen Nature Writing geschrieben. Hier scheint er es so zu sagen: Kein Mensch ist eine Insel. Aber auch: Keine Insel gehört dem Menschen.

Der Roman hat fast etwas Pantheistisches, wenn es um die Verletzlichkeit unseres Planeten geht. Da gibt es zum Beispiel eine „Waldkathedrale“ nahe der Küste, ein majestätisches Waldstück, dessen Eingang aus zwei Baumriesen besteht. Zugleich lenkt Wu, 1971 in Taoyuan geboren, die Aufmerksamkeit auf Taiwans ursprüngliche Bevölkerung. In dem demokratischen Inselstaat genießen die Belange der indigenen Völker erst seit einigen Jahren politisches Interesse, inzwischen aber mit Nachdruck.

Die Arroganz des Menschen droht ihn zu beenden

Angesichts seiner unaufhaltsamen Naturkatastrophen könnte man das Buch fatalistisch nennen: Das nächste Beben, der nächste Taifun, der nächste Tod kommt bestimmt. Doch immer sind es menschengemachte Pfade ins Chaos. Atile’i hält die Insel, die ihm immerhin das Leben gerettet hat, zwar für ein numinoses Wesen. Bei genauerer Betrachtung aber ist auch sie nur der Abfall des Menschenzeitalters.

„Ohne die Erinnerung anderer Lebewesen und Lebenswelten ist kein Leben möglich“, sagt der Mann mit den Facettenaugen über unser anthropomanisches Weltbild. „Der Mensch glaubt, er sei zum Überleben nicht auf das Gedächtnis anderer angewiesen, er glaubt, Blumen und Blüten seien nur dazu da, seinen Augen zu schmeicheln…; er glaubt, nur er könne Trauer empfinden“. Diese Arroganz droht ihn, den Menschen, zu beenden.

Bücher aus und über Taiwan sind in Deutschland rar

Zu hoffen bleibt nicht zuletzt, dass Wus lesenswerter Roman dazu beiträgt, dass mehr Bücher aus und über Taiwan den Weg ins Deutsche finden. Noch ist das ein schleppender Prozess. Vor zwei Jahren erschien Qiu Miaojins „Aufzeichnungen eines Krokodils“ (1994) über das queere Leben kurz nach dem Ende der Kuomintang-Diktatur endlich auf Deutsch, 2021 der grandiose Taiwan-Roman „Pflaumenregen“ des deutschen Schriftstellers Stephan Thome. Der Übersetzung harrt reichlich weitere zeitgenössische Literatur, etwa der zu Recht hochgelobte Roman „Green Island“ (2016) der taiwanstämmigen US-Amerikanerin Shawna Yang Ryan über die Diaspora der Inselrepublik.

Wu Ming-Yi wurde 2018 für seinen Roman „The Stolen Bicycle“ als erster Taiwanese für den internationalen Booker-Preis nominiert, allerdings mit der unwürdigen Fußnote, dass das Booker-Komitee auf Druck Chinas Wus Nationalität gegen dessen Willen vorübergehend zu „Taiwan, China“ änderte.

In „Der Mann mit den Facettenaugen“ spielt der große imperiale Nachbar keine Rolle. Das Buch handelt von einer nicht minder menschengemachten, aber größeren, planetaren Katastrophe – der Klimaerhitzung. Die so ernüchternde wie wahre Grundaussage: Der Mensch ist nicht gut, aber es gibt gute Menschen. Die Wege von Alice und Atile’i werden sich trennen. Doch der nächste Tsunami kommt bestimmt. Kein leichter Roman, aber in seiner murakami-esken Nachdenklichkeit ein bereichernder.

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