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Stillstand auf dem polnischen Bahnsteig.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (157): Wenn der Zug in Polen liegen bleibt

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

1.8.2023
Aus Angst vor dem Unvorhersehbaren bin ich heute schon 40 Minuten vor der Zugabfahrt am Hauptbahnhof. Man kann gar nicht mehr abschätzen, wie lange man in Berlin braucht, um den gewünschten Ort zu erreichen – mal gibt es Pendelverkehr bei der U2, mal wird die Schönhauser Allee lahmgeklebt.

Auf Gleis 12, von dem der Zug nach Przemysl Glowny abfährt, bin ich nicht alleine, viele Ukrainer*innen haben sich bereits hier versammelt. Diese Route nach Lwiw und Kiew ist gerade beliebt – insbesondere weil es derzeit nicht so viele Alternativen gibt, um aus Deutschland in die Ukraine zu gelangen.

Erst vor ein paar Tagen sind mir alte Flugtickets in die Hände gefallen – ein Beweis dafür, dass man noch vor zwei Jahren direkt nach Charkiw fliegen konnte! Seit dem Beginn des Großen Krieges ist der Flugverkehr in der Ukraine aber komplett eingestellt und die Reise nach Charkiw mit der Eisenbahn dauert 36 Stunden.

Am Hauptbahnhof hört man die üblichen Mitteilungen: Welche Verspätung der eine oder andere Zug hat und warum. Der nach Düsseldorf auf dem Gleis gegenüber kommt eine Stunde zu spät, Grund dafür sind Personen auf den Gleisen. Mein Polnisch reicht, um die neben mir stehende grauhaarige Dame zu verstehen, als sie ihrer Freundin stolz mitteilt: „Aber unser Zug ist immer pünktlich, immer!“ Doch sie irrt sich, finden wir bald heraus, heute hat er eine Verspätung von 25 Minuten.

Wird der Zug nach Kiew auf uns warten?

Während ich im Zug sitze, versuche ich einen Plan zu erstellen und festzulegen, wann welche Musiker*innen in den nächsten Tagen ins Studio zu den Aufnahmen kommen sollen – und schlafe dabei ein. Als ich aufwache, bemerke ich, dass der Zug in Rudna Gwizdanow zum Stillstand gekommen ist.

50 Minuten später erfolgt endlich eine Durchsage. Diesmal ist es keine Person, sondern ein Baum, der auf die Gleise gefallen ist, der Zug kann nicht weiterfahren. Wir sollen mit Bussen nach Lubin, von dort aus wird die Reise fortgesetzt. Doch es gibt erstmal nur zwei Busse und die reichen nicht für alle. Ich habe Glück, mit der ersten Gruppe loszufahren. Während wir endlich im neuen Zug in Lubin sitzen, kehren die beiden Busse wieder zurück nach Rudna Gwizdanow, um die anderen Passagiere abzuholen – und das geschieht noch zweimal.

Weitere Durchsagen bleiben aus. Die Klimaanlage funktioniert nur, wenn der Zug in Bewegung ist, daher stehe ich draußen vor der Wagentür, um frische Luft zu schnappen. Dort treffe ich auf zwei ukrainische Damen, eine aus Charkiw und die andere aus Saporischschja. Wir diskutieren über das Thema, das gerade auch alle Ukrainer*innen hier beschäftigt: Wird der Zug nach Kiew in Przemysl auf uns warten oder nicht? Und falls nicht, was machen wir dann mitten in der Nacht am Bahnhof, und was passiert mit unseren Tickets?

Neben uns rauchen polnische Jugendliche. Da die Weiterfahrt sich offensichtlich auf unbestimmte Zeit verzögert, läuft einer von ihnen zum Kiosk und bringt ein Sechserpack Bier. Auch mit ihnen komme ich ins Gespräch, einer sieht mein T-Shirt mit dem Logo von Rohatyn Jewish Heritage, der Initiative, die sich um die jüdischen Gräber in der Westukraine kümmert – und will wissen, ob ich Israeli bin.

Bevor ich ihm antworten kann, hören wir plötzlich eine Sirene. Seit wann gibt es auch in Polen Luftalarm? Die Ukrainerinnen rauchen unbeeindruckt weiter, für sie scheint nichts Ungewöhnliches zu passieren. Eine von ihnen meint, dass Polen angeblich heute beschossen wurde. Was?! Ich schaue in die Nachrichten, finde jedoch keine Bestätigung für diese Information. In einem Mix aus Polnisch und Englisch versucht uns einer der polnischen Jungs zu erklären, dass heute der Jahrestag des Warschauer Aufstandes sei und die Sirene damit zusammenhänge.

Drei Stunden später ist der Zug wieder voll und wir dürfen endlich weiterfahren. Erst um 2 Uhr nachts erreichen wir Przemysl, der ukrainische Zug wartet auf uns. Was für eine Erleichterung! Nur noch zehn Stunden – und ich bin wieder in der ukrainischen Hauptstadt, zum ersten Mal seit dem November 2021.

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