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Mischpult auf ukrainisch

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (87): Wie man Musikern am besten hilft

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

25.-27.11.2022

Seit Oktober funktioniert mein Körper anscheinend nur in zwei Modi - wenn ich nicht auf der Bühne stehe, bin ich krank. Nach den Auftritten diese Woche bin ich nun erkältet und nehme mir vor, die nächsten Tage zu Hause im Bett zu verbringen und mich zu kurieren.

Unser Konzert ist am 9. Dezember in Charkiw

Langweilig wird’s nicht - bis zu meiner Abreise nach Charkiw muss ich fünf Songs zu den Texten eines ukrainischen Philosophen aus dem 18. Jahrhundert schreiben, Hryhorij Skoworoda. Serhij Zhadan hat sie für unser Konzert am 9. Dezember in Charkiw ausgesucht. Neben mir liegen meine Gitarre und ein Keyboard, neue musikalische Ideen nehme ich mit dem Handy auf. Außerdem bekam ich ziemlich viel Post und habe langsam das Gefühl, ich schulde vielen Menschen eine Antwort - eine perfekte Gelegenheit also, mich endlich bei allen zurückzumelden.

Bei Facebook und Instagram werden dieses Wochenende ganz viele Bilder mit Kerzen geteilt, stelle ich fest. Meine deutschen Freunde wünschen einander frohen ersten Advent. Die Ukrainer dagegen gedenken Ende November mit einer symbolischen Kerze der Opfer des Holodomor, der Hungersnot in der Sowjetukraine der frühen 1930er Jahre, bei der über drei Millionen Menschen sterben mussten. Außerdem gehören Kerzen gerade zum ukrainischen Alltag. Im ganzen Land wird regelmäßig Strom abgeschaltet, die russen beschießen nach wie vor die Infrastruktur.

Hier zwei Posts aus meinem Facebook-Feed:  „Ich wünsche allen einen gemütlichen 1. Advent!“, schreibt Antje aus Münster. „Bitte macht Euch keine Sorgen, bei uns ist alles gut, wir haben weder Strom noch Wasser, aber es ist warm, die Heizung funktioniert (noch)!”, so Anastasia aus Kiew.

Wöchentlich bekomme ich Mails von den Menschen, die ich nie getroffen habe - oft möchten sie Ukraine und Ukrainer*innen helfen. Ich bin dankbar dafür und freue mich immer, sie zu lesen - umso mehr, wenn ich darauf etwas Konstruktives antworten kann. Heute erreicht mich folgende Anfrage: „Für eine Veranstaltung suchen wir eine musikalische Begleitung und würden gern geflüchtete ukrainische Musiker unterstützen. Können Sie uns evtl. jemanden empfehlen? Es geht um einen Empfang, der musikalisch untermalt werden soll.“

Wie viele meiner Landsleute versuche ich mein Gedächtnis zu trainieren, um in Momenten wie diesen mich schnell erinnern zu können: Wer braucht was, wer bietet was an? Nichts ist mir lieber, als Musikerkolleg*innen zu unterstützen. Ich denke sofort an einen Cellisten, den ich schon mal auf der Bühne gesehen habe. Er ist toll und zuverlässig, ich schreibe ihn sofort an, frage, ob er an diesem Tag schon etwas vor hat. Dabei habe ich einen komischen Beigeschmack, so als ob ich etwas vergessen oder übersehen habe - warum eigentlich?

Ich lese die Anfrage nochmal und kann nichts Seltsames entdecken. Und dann sehe ich den Betreff, den ich nicht wahrgenommen habe: „Suche Musiker Ukraine/Russland“. Oops. Ich schicke eine kurze Nachricht zurück, frage, was es mit russland auf sich hat und bekomme bald die Antwort: „Die Idee dahinter ist etwas in Richtung „Völkerverständigung“, eine Versöhnung von Russland und der Ukraine auf einer Berliner Bühne in der Musik. Wir alle wollen nichts mehr, als dass Russland diesen Krieg beendet.“ Völkerverständigung… Versöhnung. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich leite diese Antwort an den Musiker weiter, er schreibt mir zurück. „Mein Bassist ist erst vor zwei Wochen nach Deutschland gekommen. Er saß tagelang im Keller, während sein Haus zitterte, als die russen Kremenchuk bombardierten. Wir können das nicht machen”.

Es klingelt an der Tür. Mein neuer Koffer, den ich von unterwegs bestellt habe, ist da. Ich schaue ihn mir kritisch an - ist er groß genug? Nach Rücksprache mit meinen Freunden in Charkiw habe ich gestern in meinen Social-Media-Accounts einen Aufruf veröffentlicht - wenn jemand bereit wäre, einen oder mehrere Powerbanks für die Ukraine zu spenden, würde ich sie gern mitnehmen. In den ersten Stunden habe ich so viele Zusagen erhalten, dass ich nicht mehr sicher bin, ob sie alle in den Koffer reinpassen. 

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