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Ankunft von Flüchtenden aus der Ukraine im polnischen Przemysl.

© IMAGO/ZUMA Wire / IMAGO/Bryan Smith

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (89) : Auf dem Weg in die Heimatstadt

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

3.12.2022
In den späten Neunzigern fuhr ich oft in die Ukraine – in Potsdam, wohin ich 1995 gezogen war, kannte ich kaum jemanden. Meine Freundin und alle meine Kumpels blieben in Charkiw, ich habe sie sehr vermisst.

Es gab damals direkte Züge, man konnte abends in Berlin Lichtenberg einsteigen und in nur 36 Stunden am Charkiwer Bahnhof sein. Bei diesen Reisen lernte ich immer spannende Menschen kennen – Zigarettenschmuggler, Musiker, Historiker, mit manchen sind wir bis heute in Kontakt geblieben. 

Dann kamen die ersten bezahlbaren Flüge in die Ukraine, zuerst nach Kiew, dann auch nach Charkiw. Es wurde fast unmöglich, sich mit den anderen Passagieren zu betrinken und neue Freundschaften zu schließen, dafür aber kam man viel schneller ans Ziel. 2021 war ich drei- oder sogar viermal in Charkiw, genau so oft in Kiew und einmal im Donbass. 

Seit Ende Februar kann man nicht mehr in die Ukraine fliegen. Meine erste Reise in die Heimat dieses Jahr unternehme ich wie vor 25 Jahren mit der Bahn. Um 10:39 nehme ich am Hauptbahnhof den Zug nach Przemysl. Kaum habe ich meinen Koffer abgestellt, bittet mich eine Ukrainerin, die ihren Platz direkt hinter mir hat, ihr mit ihrem Gepäck zu helfen.

Ihr Koffer ist recht schwer, stelle ich fest. „Na klar“, lacht sie, „wir fahren doch nach Hause!“.  Mir kommt ein Gedicht von Lyuba Yakimchuk in den Sinn, das mit der Zeile „Nach Hause fahren wir – dorthin, wo unsere Haare grau wurden“ beginnt. 

Es ist schön, ausnahmsweise nichts zu tun zu haben und sich entspannen zu können, einen Film zu gucken, ein Buch zu lesen, vielleicht sogar zu schlafen, das hatte ich lange nicht mehr! Wenn ich aus dem Fenster rausschaue, sehe ich im grauen Berliner Wintertag die ukrainische Fahne auf einem Balkon beim Ostbahnhof, ein gutes Zeichen zum Beginn der Reise… 

In Krakau scheinen alle Polen auszusteigen

Ich schlafe ein und werde eine Stunde später vom Sound einer Sirene geweckt – die Dame rechts von mir hat offenbar ihr Mobiltelefon nicht auf lautlos gestellt, die Luftalarm-App warnt vor den russischen Raketen, die gerade Richtung Kiew fliegen. 

Ich habe den Eindruck, alle Polen sind in Krakau ausgestiegen, in unserem Wagen wird fast nur noch Ukrainisch und Russisch gesprochen. Irgendwo klingelt es, den Klingelton erkenne ich schon beim zweiten Takt – das ist „Schedrik“, der größte ukrainische Hit aller Zeiten, bekannt auf der ganzen Welt unter dem Titel „Carol Of The Bells“ – in der Weihnachtszeit hört man diesen Song so oft wie „Last Christmas“ oder „O Tannenbaum.“

Am Sonntag, habe ich heute gelesen, feiert man in New Yorks Carnegie Hall das hundertjährige Jubiläum des Lieds mit einer bereits ausverkauften, von Martin Scorsese moderierten Veranstaltung. 

Kurz nach 21 Uhr erreichen wir Przemysl und verbringen die nächsten Stunden am Bahnhof, und zwar in einer Schlange vor dem Häuschen, wo Pass- und Gepäckkontrolle durchgeführt werden, bevor man in den Zug Richtung Ukraine steigen darf. Kontrolliert wird erst wenn der Zug da ist, bis dahin sollen sich die Passagiere draußen gedulden, heute bei minus ein Grad. 

Schaut man sich den Inhalt meines Koffers an, so könnte man vermuten, ich wäre ein wandernder Markt für Elektronik – nach Charkiw bringe ich die 25 von netten Berlinern gespendete Powerbanks und zehn Stirnlampen sowie einen kleinen Generator, den ich, wenn in Lwiw, an die Eltern einer Berliner Freundin nach Saporischschja schicken soll.

Außerdem befinden sich in meinem Gepäck zwei von einer Detonationswelle in Irpin beschädigte Leica Kameras, die der ukrainischen Dokumentarfotografielegende Oleksandr Glyadelov gehören – sie wurden inzwischen in Deutschland repariert, morgen in Lwiw wird sie mir jemand abnehmen und nach Kiew bringen.

Gut, dass ich den Koffer nicht auspacken und mich erklären soll, wenn es soweit ist. Der Zug ist pünktlich da, die Kontrolle verläuft relativ schnell und unkompliziert, ich finde meinen Platz und freue mich über die Wärme im Wagen. Noch zwei Stunden und ich bin in Lwiw! 

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