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Es ist angerichtet. Bis zu zwei Meter Durchmesser haben die schwimmenden Teller, die Blätter der Victoria amazonica.

© Kai-Uwe Heinrich

Botanischer Garten: Nach 12 Jahren: Victoriahaus wird wieder eröffnet

Im Botanischen Garten wird die Riesenseerose bald ihre Blüten öffnen. Dann kann sie bestäubt werden - ihre Gärtnerin wartet schon.

Roswitha Domine hat viel zu tun. In diesem Sommer muss sie sogar mehrfach die Arbeit eines tropischen Käfers aus dem Amazonasgebiet verrichten. Bald ist es erstmals so weit, dann stehen auch Nachtschichten an.

Jetzt, so kurz vor der offiziellen Wiedereröffnung des wohl spektakulärsten Gewächshauses im Botanischen Garten Dahlem, führt sie schon mal bei Tageslicht vor, wie sie in die Rolle des Insektes schlüpft: Die schlanke Figur der 63-jährigen Gärtnerin verschwindet einen Moment lang beinahe komplett in der weiten, brusthohen Anglerhose mit den angeschweißten Gummistiefeln.

Sie zieht die Träger über die Schultern, steigt ins handwarme Wasserbecken und nähert sich den ersten Knospen. Sobald sich diese in den nächsten Tagen zur Blüte entfalten, wird Roswitha Domine die südamerikanische Riesenseerose „Victoria amazonica“, bestäuben.

Etwa so groß wie ein Handballfeld ist das 107 Jahre alte, denkmalgeschützte Heim des botanischen Publikumsmagneten. Seit 2005 war das Gewächshaus geschlossen, in den vergangenen Jahren wurde es für rund zehn Millionen Euro grundsaniert und energetisch modernisiert. Am Samstag bekommen die Berliner ihre beliebte Seerose zurück. Der Tagesspiegel durfte die Victoria amazonica, benannt nach Queen Victoria, der ersten britischen Monarchin im 19. Jahrhundert, schon vorab besuchen und ihren Pflegern über die Schulter schauen.

Riesige Schwimmblätter schimmern in allen Grüntönen

Ein heißer Lufthauch weht durch die Tür. Willkommen im Klima des Amazonas-Regenwaldes: mehr als 30 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit unter dem verglasten Stahlgerippe. Kurz vor Mittag heizt die üppige Junisonne das Haus zusätzlich auf. Perfekte Bedingungen für die Mega-Seerosen. Zwei Exemplare wachsen im ovalen 75.000-Liter-Wasserbecken, das man umrunden und von einem Brückchen aus überblicken kann.

Armdicke Stengel steigen rosettenförmig vom Grund im klaren Süßwasser auf, riesige Schwimmblätter ruhen auf der Oberfläche, schimmern in allen Grüntönen – 1,60 bis zwei Meter im Durchmesser, jedes von markanten, bis zu zehn Zentimeter hohen Rändern geschützt. Dazwischen ragen zwei violette Knospen, fast so groß wie Rugbybälle, schon halb aus dem Wasser.

Zur Freude von Roswitha Domine. Die Knospen signalisieren ihr, dass sich die Victoria amazonica, von deren Raffinesse und Eigenarten sie begeistert erzählen kann, im neuen Becken offenbar äußerst wohlfühlt.

Das Wunder dauert von 18 Uhr bis zum frühen Morgen

Roswitha Domine ist seit 40 Jahren Gärtnerin, vor 31 Jahren kam sie zum Botanischen Garten, inzwischen leitet sie den Bereich „Sumpf- und Wasserpflanzen und Aronstabgewächse“. Drei Kollegen gehören zu ihrem Team. Wenn sich die erste Victoria-Knospe zur Blüte öffnet, tellergroß, ein faszinierendes Schmuckstück, wird Roswitha Domine eine Nachtschicht einlegen.

„Das Wunder“, sagt sie, „beginnt etwa ab 18 Uhr und dauert bis zum Morgen.“ Zwei Nächte und einen Tag lang blüht die Seerose, erst weiß, in der zweiten Nacht rosa. Behutsam wird die Gärtnerin dann von den Staubgefäßen den Blütenpollen abstreifen und ihn auf die Narbe des Blütenstempels tupfen.

Am Amazonas erledigen diesen Job diverse Käfer. Mit ihrem Blütenduft lockt die Pflanze sie an. Doch kaum ist der Käfer drin, klappen die Blütenblätter zu. Gefangen im Paradies tobt er herum, verwirbelt den Blütenstaub und verbringt darin buchstäblich eine heiße Nacht. „Wärmekameras zeigen uns, dass die Blüte eine wesentlich höhere Temperatur hat als die übrige Pflanze“, erzählt Roswitha Domine. Eine Blüte hervorzubringen, sei für die Victoria Hochleistungssport. Frühmorgens öffnet sich das schmucke Gebilde dann kurz und lässt den Käfer ganz entspannt wieder frei.

Die zwei kräftigsten jungen Exemplare durften ins Schauhaus umziehen

Der letzte Zuchtakt vor der Wiedereröffnung des Victoriahauses begann im Januar dieses Jahres. Ein Mix aus Lehm, Sand, Kompost und Mist wurde am Boden des eineinhalb Meter tiefen Beckens ausgebracht. Der nächste Schritt folgte im Februar Backstage, denn zu Domines Revier gehören auch etliche nicht öffentliche Gewächshäuser für die Nachzucht, Beobachtung oder Pflege kränkelnder Pflanzen.

Dort steckten Gärtner die erbsengroßen Victoriasamen in Spezialsubstrate eines Zuchtbeckens, pikierten bald darauf die Schößlinge und pflanzten zwei der kräftigsten Exemplare ins künftige Schauhaus. Nun zeigte die Königin der Seerosen, welche Power sie hat. Extrem rasch wuchsen die auserkorenen Pflanzen heran, erreichten ihre jetzige imposante Größe innerhalb von drei Monaten.

Genial gelöst. Ein Netzwerk aus fingerdicken Rippen gibt dem grünen Blattgewebe Halt. Bis zu 50 Kilogramm kann ein Victoriablatt tragen.
Genial gelöst. Ein Netzwerk aus fingerdicken Rippen gibt dem grünen Blattgewebe Halt. Bis zu 50 Kilogramm kann ein Victoriablatt tragen.

© Kai-Uwe Heinrich

Früher wurden – zur Freude der Fotografen – Kinder auf die leicht gewellten Schwimmblätter gesetzt; sie hielten schaukelnd stand. Das Geheimnis ihrer Stabilität offenbart sich, wenn Roswitha Domine ein Blatt anhebt und die Unterseite zeigt. Ein Netzwerk aus fingerdicken Rippen gibt dem grünen, gummiartigen Gewebe Halt, dazwischen liegen kleine Luftkissen, so dass die Pflanze wie ein Hovercraft auf dem Wasser schwebt. Bis zu 50 Kilogramm können die größten Blätter tragen. Am Prinzip ihrer Verstrebungen haben sich Architekten einst orientiert, als sie die ersten freitragenden Brücken oder großen Gewächshäuser konstruierten.

Nahaufnahme. Die gewellte Oberfläche des Victoria-Blattes.
Nahaufnahme. Die gewellte Oberfläche des Victoria-Blattes.

© Kai-Uwe Heinrich

Dennoch will Roswitha Domine die Victoria amazonica nicht „durch Stuntshows stressen“. Außerdem wäre es viel zu gefährlich, ein Blatt als originelles Kinderfloß zu nutzen. Nicht nur wegen der Wassertiefe. „Die Victoria kann heftig pieksen.“ Jedes Blatt hat rundherum pfeilspitze Stacheln, um gefräßige Fische abzuwehren. Deshalb trägt die Gärtnerin bei der Arbeit feste Handschuhe.

Und wieso haben die Blätter einen so hohen Rand? „Damit behauptet die Victoria ihr Terrain.“ Keine Nachbarpflanze kann über sie hinweg wachsen. Sollte es eine Konkurrentin versuchen, wird sie weggeschoben. Bleibt noch ein Problem. Füllt sich das Blatt bei Regen nicht randvoll mit Wasser? „Nein“, Domine zeigt auf zwei Einschnitte, „hier sind die Ablaufrinnen.“

In nur zwei Wochen erreicht ein Blatt seine volle Größe

Frühmorgens um sieben Uhr beginnt die tägliche Schicht der Victoria-Gärtner. Zuerst kontrollieren sie, wie viel Wasser am Vortag verdunstet ist. Dann füllen sie das Becken mit Regenwasser aus der Zisterne und entkalktem Trinkwasser auf. Anschließend beginnt der Check-up. Pflanzen ausputzen, nach Schädlingen absuchen; Läuse werden hier mit Florfliegen biologisch bekämpft.

Nun stapft Domine im Becken auf zwei junge Blätter zu. Jedes sieht noch aus wie ein faustgroßes, grünes Stachelknäuel, doch in zwei Wochen erreicht solch ein Blatt seine maximale Größe. An manchen Tagen können die Gärtner beim Wachsen zugucken.

Auch die kleinste Blütenpflanze der Welt ist im Victoriahaus zu bewundern

Aber zum Verweilen bleibt kaum Zeit. Auch rund ums Becken müssen sie ein ganzes Kabinett außergewöhnlicher Pflanzen in Kübeln und Beeten versorgen: „Witts Schlangenkaktus“ – die weltweit einzige Kaktusart, die mehrere Wochen auch unter Wasser leben kann –, Mimosenbüsche, Zyperngras, die großblütige Pfeifenwinde, deren Blüten wie Tabakpfeifen aussehen. Oder auch die kleinste Blütenpflanze der Welt aus Brasilien, genannt „wurzellose Zwergwasserlilie“ und die Pflanze mit dem „Lotos-Effekt“: Sie hat extrem wasserabweisende Blätter.

Auf einmal ist die Luft voller warmer Tröpfchen, die Befeuchtungsanlage pustet Nebel ins Glashaus. Roswitha Domine steht Schweiß auf der Stirn. Sie freue sich bereits auf die erste bestäubte Victoria-Blüte, sagt sie, und alles Weitere, was danach passiert. Schon bald, nachdem sie den Käfer gespielt hat, wird die Blüte abtauchen. Die Samen entwickeln sich erst so richtig unter Wasser. Damit dies ungestört geschieht, wickelt Domine die Frucht bis zur Ernte mit Gaze ein.

Manchmal, sagt die Gärtnerin, wenn sie beim Arbeiten innehalte, erfülle sie regelrecht Ehrfurcht vor der Vielfalt ihrer Pflanzen und all den Kniffen, mit denen sie ihr Überleben sichern. Jetzt, in der Mittagssonne, wird es selbst Roswitha Domine zu heiß. Die Tür schwingt auf. Tschüss, Amazonas! Berlin fühlt sich bei 32 Grad in Dahlem dagegen fast ein wenig kühl an.

Ab Samstag wieder zu besichtigen: das Victoriahaus.
Ab Samstag wieder zu besichtigen: das Victoriahaus.

© Kai-Uwe Heinrich

Das Programm zur Wiedereröffnung des Victoriahauses

Das Victoriahaus wird am Freitag um 13.30 Uhr nach zwölf Jahren mit einem Festakt wiedereröffnet, dabei sind der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Umweltsenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne). Alle Berliner können die Riesenseerose dann am Wochenende zum „1-Euro-Victoria-Sondertarif“ besichtigen.

Am Sonnabend gibt es zudem verlängerte Öffnungszeiten von 9 bis 24 Uhr (letzter Einlass: 22 Uhr) – in der Hoffnung, dass sich bis Mitternacht schon eine Blüte öffnet. Am Sonntag ist das Victoriahaus von 9 bis 20 Uhr geöffnet, letzter Einlass 19.15 Uhr. Zusätzlich kann man im Botanischen Museum beim Eingang am Königin-Luise-Platz eine Sonderausstellung besichtigen: „Victoria Kabinett – 166 Jahre in 100 Bildern“. In den Julinächten des Jahres 1852 entfaltete die Victoria amazonica ihre Blüten erstmals in Berlin.

Geöffnet ist die Schau vom kommenden Sonnabend bis 31. August, täglich 9 bis 19 Uhr. Und schließlich lädt der Botanische Garten vom 23. Juni bis 25. August jeden Sonnabend (außer am 21. Juli) zu einem weiteren Höhepunkt ein: den „Victoria-Nächten“ von 9 bis 24 Uhr (letzter Einlass 22 Uhr). Man kann die blühende Seerose erleben, „Victoria-Talks“ hören, in der Victoria-Lounge relaxen und die Ausstellung sehen. Infos unter: www.bgbm.org

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