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Besser die Wahrheit? Bundespräsident Wulff bei einer Präsentation seines Buchs.

© dapd

Bundespräsident: Affäre Wulff: Wenn es reicht

Die Affäre Wulff ist keineswegs ausgestanden, meint Giovanni di Lorenzo. Gerade weil in Deutschland strenger mit Politikern verfahren wird, ist die Diskussion darüber vonnöten, wann Politiker zurücktreten müssen und wann solche Forderungen überzogen sind.

Wie wird man eines fernen Tages auf diese letzten Wochen des Jahres blicken? Wird man dann die Häufung von Rücktritten und Rücktrittsdebatten als Zeichen eines Sittenverfalls in den Parteien deuten? Viele können schon jetzt nicht mehr genau auseinanderhalten, wer seinen Posten wann und warum aufgegeben hat: Es gab den gerade elf Tage amtierenden Justizsenator in Berlin, Michael Braun, der nicht zu halten war, nachdem bekannt geworden war, dass er als Notar den Verkauf von Schrottimmobilien beurkundet hatte; ausgerechnet er wäre für den Verbraucherschutz zuständig gewesen. Es gab die bis heute öffentlich nicht begründete, aber freiwillige Aufgabe des FDP-Generalsekretärs Christian Lindner. Vorsorglich wurde in der vergangenen Woche hier und da auch schon der Rücktritt des FDP-Parteichefs durchgespielt, der aber nach dem für Philipp Rösler glücklich ausgegangenen Mitgliederentscheid zum Euro-Rettungsschirm auf sich warten lässt.

Am schwersten wiegt die Diskussion darüber, ob Bundespräsident Christian Wulff im Amt bleiben kann. Bis heute hat es den Anschein, als sei Wulff entschlossen, den Konflikt durchzustehen, als hätten die Kanzlerin und ihre Koalition angesichts der ohnehin labilen Lage kein Interesse daran, jetzt auch noch den Präsidenten zu verlieren. Möglich ist auch, dass Wulff mit einer spektakulären öffentlichen Erklärung noch vor Weihnachten den Befreiungsschlag sucht, der ihm das Amt retten soll.

Laut dem Anwalt von Bundespräsident Wulff ist der Unternehmer Egon Geerkens "aufgrund seines besonderen Sachverstands und der freundschaftlichen Beziehungen" in die Suche nach einem passenden Haus eingebunden gewesen.

Die Affäre ist keinesfalls ausgestanden – und zwar aus mehreren Gründen

Rücktritte sind oft keine Frage der Moral, sondern der politischen Opportunität. Im Fall Wulff gibt es auch die berechtigte Sorge, dass zwei Rücktritte von Bundespräsidenten in anderthalb Jahren dem Ansehen unserer Demokratie abträglich sein könnten. Die Affäre ist aber keinesfalls ausgestanden, aus mindestens drei Gründen: Die formaljuristisch als Kreditgeberin fungierende Ehefrau Geerkens wird vermutlich niemals glaubhaft machen können, dass sie selbst den Kredit gewährte und das Geld dafür gab; es sollte nur dieser Eindruck entstehen. Zweitens ist der Privatkredit so hoch, dass er ein Abhängigkeitsverhältnis sehr wohl begründet haben könnte. Wenn es stimmt, dass der Gläubiger dafür keine Gefälligkeit erwartete oder bekam, dann hätte der am Deal zumindest beteiligte Egon Geerkens nicht auf Dienstreisen des Ministerpräsidenten mitfliegen dürfen. Drittens hat Wulff sich seinerzeit im niedersächsischen Landtag und jetzt wieder darauf festgelegt, es habe keine geschäftliche Beziehung zu Geerkens bestanden, woran man ihn weiter messen wird. Dabei sind die kostenlosen Ferien bei anderen Unternehmern noch gar nicht erwähnt.

Was kaum zu fassen ist: Christian Wulff hat die Aufdeckung seiner Affäre selbst angestoßen. Das ist allerdings wohl weniger ein Zeichen von Unschuld als von mangelndem Unrechtsbewusstsein. Er hatte Journalisten von "Bild" und "Stern" Einsicht in seine Unterlagen nehmen lassen, nicht ahnend, dass dies nicht zur Zerstreuung der gegen ihn bestehenden Verdachtsmomente führen würde, sondern zum genauen Gegenteil, zu neuen Vorwürfen und zu beredtem Schweigen. Als Günther Jauch für seine Sendung am vorigen Sonntag Politiker aus der schwarz-gelben Koalition suchte, die Wulff verteidigen wollten, fand sich am Ende nur der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier, bereit – und das lag bestimmt nicht an zeitgleichen Aufführungen des Weihnachtsoratoriums.

Es gehört in Deutschland zur politischen Kultur, dass Fehlleistungen von Politikern meistens Konsequenzen nach sich ziehen. Das unterscheidet dieses Land auf vorbildliche Weise von anderen europäischen Staaten wie Italien, wo selbst die Eröffnung von Strafverfahren einen Berlusconi nicht das Amt kostete, oder von Frankreich, wo der ehemalige Präsident und Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, erst lange nach seiner aktiven Zeit als Politiker wegen Veruntreuung verurteilt werden konnte. So etwas ist in diesen Ländern auch möglich, weil dort wichtige Medien immer wieder an kritischer Berichterstattung gehindert werden. Bei uns wird inzwischen wohl auch genauer hingeschaut: Das erste Amtsjahr von Wulffs Vorvorgänger Johannes Rau war überschattet von einer Flugaffäre, die heute wahrscheinlich kein Spitzenpolitiker überstehen würde. Der damalige Oppositionspolitiker Wulff kommentierte sie im Focus bizarrerweise mit den Worten: "Ich leide physisch darunter, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten haben." Rau wurde ein respektiertes und geschätztes Staatsoberhaupt.

Gerade weil in Deutschland strenger mit Politikern verfahren wird, Menschen aber auch bei uns fehlbar sind, ist die Diskussion darüber vonnöten, wann Politiker zurücktreten müssen und wann solche Forderungen nur noch überzogen sind. Straftaten und Lügen vor dem Parlament sind Rücktrittsgründe; ebenso, wenn ein Politiker wegen seines Fehlverhaltens nicht mehr frei reden und handeln, wenn er keine Kritik mehr äußern kann, ohne dass ihm der eigene Fall um die Ohren gehauen wird, oder er ganz und gar abhängig von der Gnade anderer Politiker ist. Der vom neuen FDP-Generalsekretär Patrick Döring abgefahrene (und längst bezahlte) Außenspiegel oder das Verfliegen von Bonusmeilen rechtfertigen einen Rücktritt nicht. Zu dieser Debatte gehörte auch eine andere Frage, und zwar nicht deshalb, weil nun das Fest der Liebe ins Haus steht: was ein Politiker machen muss, damit er rehabilitiert werden kann.

Quelle: www.zeit.de

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