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Der sowjetische Soldat Militon Kantarija aus Georgien hisst im Mai 1945 die sowjetische Flagge auf dem Reichstag in Berlin.

© picture-alliance/ dpa/Jewgeni Chaldej

Update

Deutsche, Russen und das Weltkriegsende am 8. Mai: Andersherum blind – durch den Ukrainekrieg

Putins brutaler Angriff ist kein Argument, die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung von Hitler zu vergessen. Sondern doppelt Grund, die ganze Geschichte in den Blick zu nehmen.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

| Update:

Es ist ein ungewohnter Jahrestag des Weltkriegsendes in diesem Jahr in Berlin. Wer möchte schon mit offiziellen Vertretern Russlands Kränze an den Ehrenmälern für die Rote Armee in Treptow und im Tiergarten ablegen, wenn das heutige Russland einen brutalen Krieg in der Ukraine führt?

Auch das Gedenken im Museum Karlshorst fällt aus – dem Ort, wo Hitlers Generäle in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatten, woran die Westmächte am 8., die Russen am 9. Mai erinnern. Diese Leere ist besonders bitter.

Denn dort gab es in den Jahren vor Putins Angriff das Bemühen um ein neues, ehrlicheres Erinnern an den Weltkrieg, die deutschen Verbrechen an der Ostfront und die Befreiung Deutschlands: ein deutsch-russisch-ukrainisches Gedenken, das die Perspektive der nicht russischen Völker der Sowjetunion einbezog.

Gut und Böse sind nicht auf ewig klar verteilt

Die großen historischen Linien folgen nicht Schwarz-Weiß-Schemen, in denen die Rollen von Gut und Böse auf ewig klar verteilt sind – auch wenn staatliche Propaganda oft so tut. Die reale Geschichte ist voller Brüche und Widersprüche.

Gerade diese Brüche bieten Anlässe, die eingeübten Geschichtsbilder zu hinterfragen. Sie rechtfertigen es aber nicht, die eine Blindheit durch eine andere zu ersetzen.

Angesichts der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wäre es fragwürdig, mit den Repräsentanten Putins auf Völkerfreundschaft als Lehre aus dem Weltkrieg anzustoßen. Der Ukrainekrieg taugt jedoch auch nicht als Argument, die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung von Hitler zu vergessen. Er nimmt auch nichts weg von der deutschen Schuld an monströsen Kriegsverbrechen.

Ein Geschichtsbild, das nur noch aktuelle russische Schuld sieht, wäre ähnlich unehrlich wie das von Moskau über Jahrzehnte oktroyierte Gedenken, in dem der Hitler-Stalin-Pakt nicht vorkam. Und in dem unterschlagen wurde, dass Polen im September 1939 von zwei Seiten überfallen wurde, von Hitler im Westen und kurz darauf von Stalin im Osten.

Das sowjetische Geschichtsbild war eine Lüge durch Auslassung. Es stellte die Siegermacht am Ende des Kriegs ins Zentrum und die Rolle Russlands in der Sowjetunion. Unterschlagen wurde die Mittäterschaft zu Kriegsbeginn.

Unterschlagen wurde, dass die „Bloodlands“ des Kriegs im Osten in Polen, der Ukraine und Weißrussland lagen und dass die sowjetischen Hauptopfer gemessen an der Bevölkerungszahl nicht Russen, sondern Ukrainer und Weißrussen waren. Ebenso wurde der Anteil der nicht russischen Soldaten am Sieg über Hitler weitgehend ignoriert.

Zur ganzen Wahrheit gehört gewiss auch die Kollaboration vieler Menschen in Mittel- und Osteuropa, teils auf Hitlers, teils auf Stalins Seite. Aber gerade Deutsche und Russen sollten sich da vor einem raschen moralischen Urteil hüten.

Ob Balten, Ukrainer oder Rumänen: Viele von ihnen wurden nicht freiwillig zu Schergen der braunen oder der roten Diktatur. Ihnen wurde eine unerträgliche Entscheidung abverlangt, wenn sie überleben wollten. Nazis und Sowjets hatten ihnen gleichermaßen die nationale Eigenständigkeit abgesprochen.

Die Redlichkeit verlangt es, die ganze Geschichte in den Blick zu nehmen. Nicht nur am 8. und 9. Mai. Aber für Deutsche ganz besonders an diesen beiden Tagen. Und am 1. September, an dem Deutsche den Weltkrieg auslösten.

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