zum Hauptinhalt
Eine Demonstrantin hält ein Schild mit der Aufschrift „Keine Ausreden mehr! - Vergesellschaftung jetzt“ während einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus nach der Vorstellung des Abschlussberichts der Expertenkommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“.

© dpa/Wolfgang Kumm

Drohung mit der Enteignung in Berlin: Die Politik hält ein mächtiges Instrument in der Hinterhand

Die vom Berliner Senat eingesetzte Expertenkommission hält die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen für rechtlich möglich. Die Folgen könnten enorm sein.

Ein Kommentar von Lorenz Maroldt

Enteignungen sind nichts Neues in Deutschland. Schon immer wurde in Ost wie West für Straßen, Zugstrecken, Flughäfen oder den Kohlebau privates Land gegen eine Entschädigung zwangsweise verstaatlicht.

Aber noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde der Grundgesetz-Artikel 15 angewandt. Demnach kann der Staat nicht nur einzelne Vermögensbestandteile enteignen, sondern ganze Unternehmen und sogar Wirtschaftszweige in die Gemeinwirtschaft überführen, also: vergesellschaften.

Was gerade in Berlin passiert, ist deshalb nicht eine sozialistische Spinnerei in einer ohnehin als etwas verrückt geltenden Stadt, sondern die Blaupause für Kommunen und Städte in allen sechzehn Bundesländern, wenn es darum geht, wofür der Staat eigentlich da ist, nämlich: die Daseinsvorsorge.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Mächtiges Instrument in der Hinterhand

Tatsächlich reicht das juristische Gutachten der unabhängigen und überparteilich besetzten Expertenkommission weit hinaus über den eigentlichen Anlass, also den erfolgreichen Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen.

Der Bericht macht klar, dass die Politik gegenüber allen großen Unternehmen, die Menschen mit dem versorgen, was sie zu einem würdigen, sicheren und gesunden Leben brauchen, ein mächtiges Instrument in der Hinterhand hält.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die Berliner Koalition hat das Ergebnis der Expertenkommission in ihrem Regierungsprogramm bereits weitgehend unbemerkt antizipiert - und sich zudem in einer noch anderen Dimension nutzbar gemacht. Denn dort heißt es, dass ein Rahmengesetz zur Anwendung von Artikel 15 nicht nur das Wohnen betreffen wird, sondern grundsätzlich alle Arten der Daseinsvorsorge. Explizit genannt werden Wasser und Energie.

Dazu passt, was der CDU-Fraktionsvorsitzende Dirk Stettner kürzlich im Tagesspiegel sagte: „Wir müssen klären, wann eine Gemeinschaft von vier Millionen Menschen sagen darf oder sogar muss: Ein bestimmter Sektor ist für das Zusammenleben so wichtig, dass man im Zweifel und gegen eine Entschädigung auch enteignen darf.“ Der SPD-Chef Raed Saleh äußert sich ähnlich.

Das heißt allerdings nicht, dass die Berliner Koalition die Seite wechselt und jetzt wild alles enteignet, was ihr im Weg steht. Denn genau betrachtet sind die entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag und die Äußerungen des politischen Spitzenpersonals keine Ankündigung, sondern eine Drohung - gerichtet an große Unternehmen, die eine bedeutende Rolle auf dem Wohnungsmarkt und bei der Energieversorgung spielen.

In Berlin betrifft das zum Beispiel ganz konkret Vattenfall. Das schwedische Unternehmen versorgt in der Hauptstadt 1,4 Millionen Kunden mit Wärme, im vergangenen Jahr wurden die Preise erhöht. Vattenfall will diese Sparte des Geschäfts veräußern, der Senat möchte übernehmen - aber der Energieversorger ging in ein offenes Bieterverfahren.

Die Strategie der Berliner Koalition ist es, spekulative Interessenten allein schon mit der Möglichkeit einer Vergesellschaftung abzuschrecken. Mit dem 150 Seiten starken Gutachten in der Hand wirkt diese Aussicht gleich deutlich realistischer.

Dass der Senat jetzt konkret Tempo macht, ist deshalb weder nötig noch zu erwarten. In einem Rahmengesetz, das eine disziplinierende Wirkung in der Wirtschaft entfalten könnte, werden erst einmal die möglichen Wege zur Vergesellschaftung beschrieben, dann soll das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit prüfen, in Kraft treten wird es erst nach zwei Jahren.

Zudem hat der Regierende Bürgermeister Kai Wegner bei der Vorstellung des Gutachtens seine grundsätzliche Skepsis gegenüber Enteignungen bekräftigt.

Die Wohnungskrise muss also zumindest auf absehbare Zeit anders gelöst werden. Mehr Bauen wäre vielleicht eine Idee. Das Gesetz zur Vergesellschaftung als Drohkulisse und die zinsbedingt sinkenden Immobilienpreise helfen dem Senat womöglich zusätzlich dabei, das eine oder andere Wohnungspaket günstig zu erwerben - ganz ohne Enteignungsverfahren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false