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Meinung: Halb sank er hin

Heute empfängt Merkel den türkischen Premier Erdogan – sein Land droht zu zerreißen

Die Lage ist ernst. Die Türkei erlebt einen neuen Höhepunkt der Konfrontation zwischen der religiös geprägten Regierung und der kemalistischen Elite in Armee, Justiz und Bürokratie. Die Kluft zwischen beiden Lagern wird tiefer, der Grundkonsens, um das Land zu regieren, schwindet jeden Tag mehr. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan steht unter Fundamentalismus-Verdacht. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird beim deutsch-türkischen Wirtschaftskongress an diesem Freitag in Berlin den Regierungschef eines zerrissenen Landes empfangen.

Die türkischen Laizisten nehmen den Mord an dem Verwaltungsrichter Mustafa Yücel Özbilgin am 17. Mai in Ankara zum Anlass, um mit Erdogan abzurechnen. Lange schon warten die Gegner des Ministerpräsidenten auf einen klaren Beweis für die von ihnen vermuteten islamistischen Tendenzen seiner Regierung. Diesen Beweis glauben sie jetzt gefunden zu haben, weil der Attentäter von Ankara sagt, er habe gegen das – auch von Erdogan häufig kritisierte – Kopftuchverbot protestieren wollen.

In dieser aufgeheizten Stimmung wird der Widerstand gegen die Regierung Erdogan nicht nur von Oppositionspolitikern, sondern auch von Vertretern der Armee und Justiz zur Bürgerpflicht erklärt. Eine Oppositionszeitung bezeichnete die Politik der Regierung als „zivilen Staatsstreich“ mit dem Ziel eines islamischen Gottesstaates. Die größte Oppositionspartei im Parlament spielt mit dem Gedanken, die Arbeit der Volksvertretung zu boykottieren, und die Armee ruft die Bevölkerung zu Dauerprotesten gegen die Regierung auf. Es geht um die Macht im Land.

Dieser Machtkampf gefährdet die seit einigen Jahren herrschende innenpolitische Stabilität der Türkei, eine Stabilität, die zu den wichtigsten Errungenschaften des EU-Beitrittskandidaten zählt. Anders als in den neunziger Jahren, als in Ankara eine kurzlebige Regierung die andere ablöste, hatte sich das Ausland seit 2002 an eine berechenbare und verlässliche Türkei gewöhnt. Dieses Vertrauen ist schon jetzt beschädigt. Internationale Investoren ziehen sich aus dem Land unter anderem mit dem Hinweis auf die Gerüchte über vorgezogene Neuwahlen zurück. Die Kurse an der Istanbuler Börse gaben jüngst stark nach.

Zentrale Staatsorgane in der Türkei arbeiten nicht miteinander, sondern gegeneinander. Dabei sollten alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam ans Werk gehen, um eine der wichtigsten Fragen des neuen Jahrhunderts zu beantworten: die nach der Rolle der Religion in einer westlich ausgerichteten Republik mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit.

Schon vor der jüngsten Krise hatte die Türkei den Eindruck vermittelt, als sei ihr die Lust an historischen Projekten verloren gegangen. Das gilt auch für die Europa-Kandidatur. Statt weitere Reformen einzuleiten, arbeitet Erdogans Regierung an einem neuen Antiterrorgesetz, mit dem viele Fortschritte etwa auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit wieder rückgängig gemacht werden. Wegen des Zypern-Konflikts droht spätestens im Herbst eine schwere Krise in den Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel. Und Erdogan hat weder den Willen noch die Kraft, dies zu verhindern. Bei früheren Besuchen in Deutschland präsentierte er sich gern als entschlossener Macher. Diesmal wird er es sehr viel schwerer haben, die deutsche Seite von der Reformfähigkeit seines Landes zu überzeugen.

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