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Über Europa reden ist eine Sache, Tatkraft ist von allen gefordert.

© dpa

Leitartikel zu Deutschland und Europa: Leidenschaft allein ist keine Tugend

Kann Europa zwischen den Machtblöcken bestehen? Von Deutschland wird in jedem Fall mehr Gestaltungskraft gefordert

Angela Merkels Zugang zu Europa ist in der Tat ein anderer als der vieler Westdeutscher ihrer Generation. Die politisch Interessierten in der alten Bundesrepublik verstanden Europa als Ersatz-Nation. Das Motto „Unsere Heimat heißt Europa“ heilte nicht nur Trennungsschmerzen, sondern erlaubte auch die Verwendung des Begriffs Heimat, der ja bei vielen sich progressiv wähnenden unter dem Verdacht der Deutschtümelei stand. Die „Heimat Europa“ führte aber auch zu einer neuen Identität, die die deutsche, vom Dritten Reich belastete, überwölbte.

"Langer Weg nach Westen"

Den von Heinrich August Winkler zitierten „langen Weg nach Westen“ gingen die West-Deutschen auf ihre eigene Weise. Der eiserne Vorhang war zwar für Bundesbürger keineswegs undurchdringlich, der Gang durch ihn eigentlich nur bürokratisch lästig. Aber die Reisen führten trotzdem viel eher Richtung Westen. Für DDR-Bürger der älteren und der jüngeren Generation war der Blick nach Westen meist sehnsuchtsvoll. Viele Alte litten unter der Teilung, die Jungen unter dem Mangel an Freiheit, was meistens meinte: Mangel an Freizügigkeit. Die in der Mitte arrangierten sich zwangsweise oder glaubten an den sozialistischen Weg. Europa aber als Idee einer supranationalen, die nationale Souveränität begrenzenden überstaatlichen Organisation war ihnen fremd.

Merkel leidenschaftsloser als andere

Kein Wunder, an den Segnungen der Europäischen Union wie Reisefreiheit oder dem Recht auf Niederlassung konnten sie nicht partizipieren. Europa als begeisternde Vision sagte ihnen nichts. Und mit der Wiedervereinigung dominierte die Freude, dass Deutschland nun eine ungeteilte Nation war. Ja, Nationalgefühl gab es nach 1989 in der einstigen DDR häufiger als in der Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989.

Insoweit hatte Peer Steinbrück recht, wenn auch nur rein formal, als er die fehlende Leidenschaft der Kanzlerin für Europa als Ergebnis ihrer Sozialisation in der DDR interpretierte. Angela Merkel sieht das „Projekt Europa“ leidenschaftsloser als viele andere, aber das muss kein Schaden sein, denn von der Notwendigkeit eines eng zusammenarbeitenden Europa ist sie felsenfest überzeugt. Sie argumentiert dabei streng logisch, dass nur ein vereintes Europa – möglichst sogar unter Einbindung Russlands – zwischen den großen Blöcken China und USA bestehen könne. Dass sie dabei weit skeptischer als etwa Helmut Kohl ist, darf man durchaus als Vorteil sehen. Seine Methode, Widerspruch unter Geld zu ersticken, würde heute ohnedies nicht mehr funktionieren. Das hat Angela Merkel verinnerlicht. Europa ist für sie als rationale Entscheidung alternativlos und damit eben auch eine Rechenaufgabe.

Und hier setzt die große Sorge ein. Bei der Ermittlung des Preises, den Europa kosten darf, steht für sie nicht die Frage obenan, was für Deutschland angemessen und notwendig wäre, sondern nur, was dem Wähler jeweils zugemutet werden kann. Wenig, ist die Standardantwort. Um ihr konservatives Profil in einer immer weniger konservativen Partei bemühte Christdemokraten und Christsoziale trieben die Kanzlerin früh in diese Ecke, als sie keine Möglichkeit ausließen, die Südeuropäer als unzuverlässige Hallodris hinzustellen. Das fiel umso leichter, als Griechenland, Portugal und Italien die niedrigen Zinsen des Euro zur Aufnahme gewaltiger Kredite nutzten, auch, um den Staatsapparat aufzublähen und überdimensionierte Kongresszentren und kommunale Renommierprojekte in die Landschaft zu klotzen.

Niemand kann ernsthaft fordern, dass Deutschland für die so aufgehäuften Schulden aufkommen muss. Aber eine Haftungsgemeinschaft sind wir längst geworden. Die Strukturfonds und die Regionalförderungen sind nichts anderes als der deutsche föderale Finanzausgleich auf europäischer Ebene. Und so ungerecht ist das auch nicht, denn deutsche Unternehmen und deutsche Geldinstitute haben überall vom Geldausgeberausch der Südeuropäer profitiert. Wahr ist: Europa hat keinen anderen Weg als den der immer weiter gehenden Einigung, und Deutschland tut gut daran, ihn mitzugestalten, nicht den Weg dorthin zu blockieren.

Der Satz des deutschen Historikers Ludwig Dehio, wonach unser Land zu schwach ist, den Kontinent zu beherrschen, aber zu stark, um sich einzuordnen, mochte in Zeiten richtig gewesen sein, in denen Macht über die Zahl der Soldaten definiert wurde. Heute trifft er nicht mehr zu. Heute wartet Europa geradezu sehnsüchtig auf die Gestaltungskraft Deutschlands und auf die Vorschläge seiner Politiker, wie der Weg dorthin aussehen soll. Das erfordert Mut, Tatkraft, verlangt den Verzicht auf nationalistische und populistische Töne, zwingt zu Führungskraft.

Diesen Willen, entschlossen voranzuschreiten, nicht immer nur zu taktieren und zu verzögern, vermisst man bei der Bundeskanzlerin. Leidenschaft braucht sie keine. Einen klaren Kompass schon.

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