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Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© dpa

Die Agenda für Deutschland: Politik mit langem Atem

Die künftige Bundesregierung darf nicht weiter auf Sicht fahren. Sie muss endlich anpacken, was getan werden muss. Die Themen: Bildung, Rente, Europa.

Zu Beginn der Finanzkrise galt es als ein Ausweis von Solidität, wenn die Bundesregierung erklärte, nun müsse „auf Sicht“ gefahren werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück haben diese Metapher oft verwendet. Die Situation sei zu komplex, um große Pläne zu entwerfen, sollte das heißen. Mag sein, dass das damals sogar richtig war, so groß war die Unsicherheit, die über die Finanzmärkte auf die Politik hineinbrach.

Doch das Prinzip, auf Sicht zu fahren, also keinem vorher festgelegten Kurs zu folgen, scheint sich etabliert zu haben. Wie schon im Wahlkampf zeichnet sich auch nach der Bundestagswahl kein politischer Gestaltungswille ab, der über die kurze oder mittlere Frist hinausgeht. Machtarithmetik und Symbolthemen bestimmen den politischen Diskurs. Das ist nicht nur ein Symptom des Systems Merkel, bei SPD und Grünen ist es nicht anders. Auch den beiden bisherigen Oppositionsparteien fehlen die Themen für die lange Distanz. Das zeigt sich in den ersten widerwilligen Kontaktversuchen der möglichen Koalitionäre, die im Wahlkampf gegeneinander angetreten sind und nun nach Übereinstimmungen suchen sollen.

Dabei ließen sich eine Menge langfristiger Themen finden, die eigentlich heute angepackt werden müssten. Viele davon verlaufen entlang ideologischer Linien, die kaum aufzulösen sind. Dort ist gegen den Stillstand wenig auszurichten. Wie viele Versuche einer großen Steuerreform sind deswegen schon erbärmlich gescheitert! Nur: Es gibt eine Reihe von Problemfeldern, bei denen Union, SPD und Grüne zu einer ähnlichen Analyse kommen und wahrscheinlich sogar auf einen ähnlichen Lösungsansatz kämen, bei denen es aber trotzdem auch in der neuen Legislaturperiode wohl nicht vorangehen wird.

Drei Beispiele – das erste betrifft die Bildung: Alle sind sich einig, dass das Bildungsniveau, vor allem was naturwissenschaftliche und technische Themen angeht, die deutsche Wettbewerbsposition zunehmend bestimmt. Das Land hat keine nennenswerten Rohstoffvorkommen, die Löhne sind vergleichsweise hoch, und so sind es vor allem hohe Qualifikationen der Menschen, die deutsche Unternehmen voranbringen.

Es gab einige Versuche, aus dieser Erkenntnis die richtigen Lehren zu ziehen. Angela Merkel machte sich zur Bildungskanzlerin, überall hieß es, Bildung müsse Vorfahrt haben. Aber die Realität sieht bis heute anders aus. Auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen wird ein sinnloser und entwürdigender Wettbewerb zwischen Bundesländern ausgetragen. Es dürfte bei den Bildungschancen keinen Unterschied machen, ob ein Kind in Berlin oder in Bayern zur Schule geht. Die Wirklichkeit sieht anders aus, es macht einen gewaltigen Unterschied. Und genau deswegen erleben Privatschulen in Berlin derzeit einen beispiellosen Boom. So werden unfaire Verhältnisse zementiert.

Fast wären die Smartboards wieder abgehängt worden

Dass die Schulpolitik Hoheit der Länder geblieben ist, zeugt von politischer Unvernunft oder auch nur von Unfähigkeit, sinnvolle Strukturen durchzusetzen. Aber es geht nicht nur um das Verhältnis von Bund und Ländern, es ist noch viel schlimmer. In Berlin gibt es eine Schule, die jüngst beim Land die Anschaffung von Smartboards – das ist die computergestützte Form der alten Schultafel – erwirken konnte, aber beinahe davon nichts gehabt hätte.

Die Geräte hingen schon an der Wand, es waren nur noch Steckdosen zu installieren, damit sie auch funktionieren. Steckdosen aber sind in Berlin Sache des Bezirks, und so wären die Smartboards um ein Haar wieder abgehängt worden. Dass es am Ende nicht so kam, ist dem Widerstand der Schulleitung zu verdanken, die Obrigkeit hatte eigentlich anders entschieden.

Beispiel zwei: die Rente. Von der SPD in der vergangenen großen Koalition angestoßen, nimmt das gesetzliche Rentenalter stetig zu, am Ende werden es 67 Jahre sein. Der Mechanismus läuft auf eine Rentenkürzung hinaus und ist deswegen wenig populär. Dabei zeichnet sich zunehmend ab, dass es trotzdem nicht so bleiben kann, wie es ist. In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer auf gut 19 Jahre erhöht und damit ungefähr verdoppelt. Gleichzeitig stieg das durchschnittliche Renteneintrittsalter zuletzt zwar auf den Rekordstand von 61,2 Jahren, liegt damit aber trotzdem nur wenig über den Werten früherer Jahre. Im Klartext: Die Rentenbezugsdauer wächst viel stärker als die Lebensarbeitszeit. Dass die Menschen heute länger leben, spiegelt sich nur wenig im Renteneintrittsalter. Dabei gäbe es sicher Berufsgruppen, denen mit einer etwas längeren Lebensarbeitszeit kein Unrecht getan würde.

Dem Namen nach handelt es sich bei der Rente um eine Versicherung: Der Arbeitnehmer zahlt ein, damit er im Alter ein regelmäßiges Einkommen hat. Weil aber die Rentenansprüche und die eingezahlten Beiträge immer weiter auseinanderklaffen, legt der Bund inzwischen mehr als 80 Milliarden Euro pro Jahr dazu, das ist über den Daumen ein Viertel des gesamten Etats. Es kann nicht richtig sein, dass die Bundesregierung jeden vierten Euro in die Rentenkasse steckt. Und absurd wird es, wenn angeblich Überschüsse erwirtschaftet werden, mit denen die Rentenbeiträge gesenkt werden. Aber es ist politisch einfacher, das Rentensystem über Steuermittel zu subventionieren, als in die Ansprüche der heutigen oder künftigen Rentner einzugreifen. Jeder dritte Wahlberechtigte in Deutschland ist über 60 Jahre alt, mit dieser Gruppe mag sich niemand anlegen. Unbestritten ist überdies, dass es in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, Altersarmut gibt und dass sie dank der Hartz-Reformen sogar wächst.

Es gibt also keine einfache Lösung für dieses Problem, in dem es um vor Jahrzehnten ausgesprochene Versprechen des Staates, hart erworbene Versorgungsansprüche und Generationengerechtigkeit geht. Aber während jede Bürgschaft für Griechenland erbittert debattiert wird, spielen diese gut 80 Milliarden Euro Cash, die pro Jahr fällig werden, Tendenz steigend, in der öffentlichen Debatte keine Rolle.

Womit Beispiel drei erwähnt wäre, die Europapolitik. Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob das Abwartende, Tastende der Bundeskanzlerin in der sogenannten Euro-Krise der richtige Weg war. Für die einen ist sie so zur Retterin der Gemeinschaftswährung geworden, für die anderen hat sie nur den Preis der Rettung immer weiter in die Höhe getrieben. Aber unbestritten ist doch, jedenfalls bei denen, die in EU und Euro-Zone bleiben wollen, dass die Entscheidungsstrukturen in Brüssel und Straßburg nicht effizient sind. Wenn dieses Europa aber dauerhaft funktionieren oder sogar begeistern soll, müssen die einzelnen Nationen Macht abgeben. Und der Impuls kann nur aus der stärksten Nation kommen.

Es geht nicht um die Leidenschaft für Europa, die Angela Merkel angeblich vermissen lässt. Man muss die Unterzeichnung der Montanverträge nicht einst mit Tränen der Rührung verfolgt haben, um die europäische Integration als politisch und wirtschaftlich sinnvolles Ziel zu begreifen. Diesen Konsens belegt das Ergebnis der Bundestagswahl schon auch, denn die „Alternative für Deutschland“ war für 19 von 20 Wählern keine Alternative. Wenn das aber so ist, dann muss dieses Staatengebilde endlich beherzt weiterentwickelt werden. Die EU hat nur eine gute Zukunft, wenn sie von den Menschen, auch von den arbeitlosen Jugendlichen in Spanien und Griechenland, als Ort der Hoffnung, der Zukunft gesehen wird. Und das kann sie nur, wenn sie sich entwickelt.

Nun war es nicht ganz fair, am Anfang dieses Artikels der Politik insgesamt den Gestaltungsanspruch über die kurze Frist hinaus abzusprechen. Es gibt mindestens zwei Gegenbeispiele: die Agenda 2010 von Gerhard Schröder und die Energiewende von Angela Merkel. Nur: Diese beiden Projekte wurden aus der politischen Not geboren. Schröder musste der Arbeitslosenzahl, die sich Richtung fünf Millionen bewegte, etwas entgegensetzen. Dass er gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier und Peter Hartz eine Reform des Sozialstaats aus dem Boden stampfte, war nicht von langer Hand geplant. Heute wird verklärt, dass er die Agenda 2010 trotz der am laufenden Band verlorenen Landtagswahlen und des schrumpfenden Rückhalts in der Partei wacker durchsetzte – aber es war ein Weg, auf den ihn die Arbeitsmarktdaten und die Untätigkeit in den Jahren zuvor zwangen.

Und auch die Energiewende von Angela Merkel war alles andere als geplant. Gerade noch hatte sie die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert, jetzt drehte sie diesen Schritt unter dem Eindruck des Atomunfalls von Fukushima im fernen Japan quasi über Nacht zurück. Es sei ihr, der Naturwissenschaftlerin, zugestanden, dass dieses Ereignis ihre Sicht auf diese Technik tatsächlich grundlegend geändert hat. Es gibt solche Momente der plötzlichen Erkenntnis. Ganz offensichtlich spielte aber auch die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg eine Rolle, die ja dann in der Tat die Grünen als bewährte Atomkraftgegner für sich entschieden.

Wie aber findet dieses politische System aus seiner offensichtlichen Erstarrung?

Und diesen beiden Reformen, der Agenda 2010 und der Energiewende, ist nicht nur gemein, dass sie das Leben von Generationen beeinflussen, also langfristig wirken, sondern auch, dass sie ungewöhnlich schlampig zusammengezimmert wurden. Die vielen Hartz-IV-Prozesse illustrieren das bei der Agenda 2010, und dass die Energiewende bisher professionell organisiert wird, kann man nicht ernsthaft behaupten. Es scheint sich eingebürgert zu haben, erst dann Politik mit längerfristiger materieller Wirkung zu machen, wenn es gar nicht anders geht. Und auch dann – das haben Agenda und Energiewende ebenfalls gemein – bestimmt das Ziel des kurzfristigen Machterhalts mindestens einen Teil der Motivlage.

Wie soll eigentlich Schritt für Schritt Politik gemacht werden, wenn ständig gewählt wird? Bei Unternehmen wird häufig beklagt, sie seien vom Quartalsdenken der Finanzmärkte getrieben, aber in der Politik ist es kaum anders. Einer der früheren Finanzminister von Baden-Württemberg pflegte im kleinen Kreis zu seufzen, ihm fehle der Anreiz, über vier Jahre hinaus zu denken. Doch die gesamte politische Klasse denkt inzwischen in noch viel kleineren Zeiteinheiten, weil sie sich von einer Landtagswahl zur nächsten hangelt. Und weil Deutschland föderal organisiert ist, betreibt jedes Bundesland seine eigene Schulpolitik und seine eigene Energiewende – was für ein grandioser, teurer Unsinn!

Wie aber findet dieses politische System aus seiner offensichtlichen Erstarrung? Union und SPD, die jetzt sondieren, hätten zusammen eigentlich eine Mehrheit, mit der sie dieses Land grundlegend gestalten könnten. Die Bildung könnte Vorfahrt bekommen, das Rentensystem austariert werden und Europa neue Impulse bekommen, um nur diese drei Themen zu nennen. Aber selbst wenn sie für die nächste Legislaturperiode zusammenfinden, zeichnet sich ein solcher Gestaltungsanspruch nicht annähernd ab. Und sollte es doch noch auf Schwarz-Grün hinauslaufen, käme zum fehlenden Anspruch die fehlende Macht hinzu: Die Mehrheit im Bundestag wäre kleiner, der Gegenwind aus dem Bundesrat heftig.

Wie katastrophal die Lage zu Beginn der neuen Legislaturperiode eigentlich ist, fällt kaum auf in einer Phase, in der es wirtschaftlich relativ gut läuft. Deutschland gilt längst nicht mehr als der kranke Mann Europas. Aber das strahlende Bild der wirtschaftlichen Potenz wird nicht von Dauer bleiben. Die Wahrnehmung und auch die tatsächliche Konjunktur verlaufen in Zyklen, die nächste Schwächephase kommt bestimmt. Spanien und Irland galten vor wenigen Jahren als die neuen Wirtschaftswunder, aber der Zauber ist gründlich verflogen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat gerade erst vor „einer schleichenden Erosion der Wettbewerbsfähigkeit“ gewarnt und sich insbesondere auf die Risiken der Demographie bezogen. Die künftige Bundesregierung darf nicht auf Sicht fahren, sondern muss Kurs auf langfristige Reformen nehmen. Das ist ihre Chance und ihre Pflicht.

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