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Christian Wulff: nach der Affäre um einen Privatkredit hat er viel Vertrauen in der Bevölkerung verloren.

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Pro & Kontra: Kann Christian Wulff einfach so weitermachen?

Nach Christian Wulffs Erklärung zu seiner Affäre zog erst einmal der Weihnachtsfrieden ins Schloss Bellevue ein. Doch die Debatte ist damit nicht zu Ende. Hat sich die Sache für den Bundespräsidenten erledigt?

Bernd Ulrich: Nein, Wulff kann nicht weitermachen. Er hat die Öffentlichkeit bewusst in die Irre geführt. Das zerstört seine Autorität – und die des Amtes

"Es wäre verheerend und nahe an einer echten Staatskrise, wenn innerhalb von zwei Jahren zum zweiten Mal ein Bundespräsident zurückträte." Das sagte diese Woche Sigmar Gabriel. Lassen wir das mit der Staatskrise mal als typische Gabrielsche Übertreibung beiseite und widmen uns der Logik seiner Aussage: Der SPD-Chef sagt nämlich – und trifft damit die Stimmung der meisten Politiker und Leitartikler –, dass Christian Wulff, wenn sein Vorgänger Horst Köhler nicht auch schon zurückgetreten wäre, eigentlich zurücktreten müsste.

Damit hat er recht. Nicht, weil Wulff sich mehrfach zu sehr mit reichen Unternehmern eingelassen hat, was verzeihlich wäre. Auch nicht, weil der niedersächsische Ministerpräsident das dortige Parlament im Jahr 2009 bewusst getäuscht hat, als er unterschlug, mit Frau Geerkens in einer geschäftlichen Beziehung zu stehen. Nein, zurücktreten müsste Wulff keineswegs wegen etwas, das länger zurückliegt, sondern wegen dem, was er dieser Tage in eigener Sache tut und versäumt.

Der Bundespräsident hat am 13. Dezember 2011 verlauten lassen: "Solche geschäftlichen Beziehungen (zu Herrn Egon Geerkens) bestanden und bestehen nicht." Eine Woche später lässt Wulff seine Anwälte verbreiten, "dass Herr Egon Geerkens an den Verhandlungen rund um den 500.000-Euro-Kredit beteiligt war". Wulff hat also nicht irgendwann, sondern heute, und nicht nur das niedersächsische Parlament, sondern die deutsche Öffentlichkeit bewusst in die Irre geführt. Bedauert hat er dann auch nicht seinen Täuschungsversuch, sondern nur die Irritation, die er ausgelöst hat. Weil Wulff nur zugibt, was er zugeben muss, und so lange finassiert, wie er kann, weil er, kurzum, keine Einsicht zeigt, deswegen müsste er an sich gehen.

Deutschland ist nicht Puritanien, und deshalb könnte Wulff sich auch aus dieser Lage noch befreien, wenn er denn mutig wäre, alles auf den Tisch legen und sich den Fragen der Presse direkt stellen würde. Stattdessen hat er in den letzten Wochen einen unschönen Charakterzug zu erkennen gegeben. Zunächst ließ er nur immer verlauten, ohne je selbst vor die Öffentlichkeit zu treten. Erst als ihm gar nichts mehr anderes übrig blieb, weil der Termin seiner Weihnachtsansprache bedrohlich nahe rückte, trat er selbst vor die Kameras. Das tat er am 22. Dezember, so spät wie möglich, so kurz wie möglich (vier Minuten) und so gefahrlos wie möglich (keine Journalistenfragen). Zugleich entließ er seinen langjährigen Sprecher. Man würde gern einen anderen Ausdruck dafür finden, es gibt jedoch nur einen: feige.

Was aber bedeutet unter diesen Umständen Gabriels Aussage, dass es verheerend wäre, wenn Wulff zurückträte? Ist es etwa weniger verheerend, wenn er nur deswegen im Amt bleibt, weil schon sein Vorgänger vorzeitig aufgab?

Es gibt etwas wirklich Merkwürdiges rund um die Causa Wulff. Auf der einen Seite wird er nicht so scharf kritisiert, wie es von der Sache her richtig wäre – mit Rücksicht auf das Amt. Auf der anderen Seite scheint man sich unter Politikern und Kommentatoren zu sagen: Er ist ja nur Bundespräsident, da kann er eh nicht viel Schaden anrichten. (Wäre Christian Wulff, sagen wir, Wirtschaftsminister, so wäre er es schon nicht mehr.) Der Rücktritt des beschädigten Präsidenten würde dem Amt mehr schaden, als wenn er beschädigt im Amt bliebe? Was für ein Hohn – gegen das Amt!

Achtung vor dem Amt und Missachtung des Amtes fallen hier offenbar in eins. Warum ist das so? Der Bundespräsident war jahrzehntelang äußerst wichtig für ein Land, das sich nach dem moralischen und materiellen Desaster des Zweiten Weltkriegs erst wieder finden musste. Wie sich Deutschland in der Welt repräsentieren, wie ein Deutscher sich geben könnte, das zeigte dem Volk Theodor Heuss (1949–59), der erste Präsident. Dass die Sozialdemokratie diesen Staat auch mittragen konnte und wollte, dafür stand Gustav Heinemann (1969–74). Und wie dieses Land schlussendlich mit seiner Vergangenheit umzugehen hatte, das ließ es sich von Richard von Weizsäcker sagen (1984–94). Seither sind die Deutschen erwachsen geworden, sie können sich selbst benehmen, der Bundespräsident ist kein Erzieher mehr, keine Reserve-Queen und kein politisches Über-Ich, er ist ein politischer Akteur unter anderen.

Dass der Bundespräsident gleichwohl stets beliebt ist, spricht keineswegs gegen die These von der Profanisierung des Amtes. Schließlich speist sich dessen Beliebtheit schon aus der dekorativen Wohlfeilheit. Der Bundespräsident, so wird gesagt, kann nur reden, er muss aber auch nur reden. Auch wenn er gar nichts macht, ist er beliebt, so wie Wetten, dass..? beliebt ist. Horst Köhler, der wie Wulff kein guter Redner war, genügte das nicht. Darum hat er versucht, Popularität aus einem antipolitischen Affekt zu ziehen, weswegen die politische Klasse ihn irgendwann hat links liegen lassen, was wiederum dem Amt alles andere als gutgetan hat. Wulff hat also ein Amt übernommen, das schon profanisiert und beschädigt war.

Bundespräsident, das ist heute ein Amt, das nicht mehr den Amtsinhaber wachsen lässt, sondern das dringend einen Inhaber braucht, der das Amt wieder bedeutend macht (wie vielleicht Joachim Gauck, Wolfgang Schäuble oder Ursula von der Leyen). Wahrscheinlich war Christian Wulff diese Person nie, jetzt ist er es erst recht nicht mehr. Wie gesagt, nicht wegen seines früheren Hangs zu reichen Männern, sondern wegen seiner fortgesetzten Uneinsichtigkeit und wegen seiner Mutlosigkeit. Heute kann ein Bundespräsident nicht mehr durch Repräsentieren und Reden allein wirken, seine Worte haben nur da noch Gewicht, wo sie auch ein Wagnis sind. Ohne Mut kein Präsident.

Wulff ist noch im Amt. Aber das Amt ist nicht mehr in Wulff. 

Strich unter die Affäre!

Robert Leicht: Ja, Wulff kann weitermachen. Er hat keine verbotenen Vorteile gewährt oder angenommen. Allein darauf kommt es an

Die Antwort ist einfach: Ja! Doch der Weg dorthin führt über einige differenzierende Untersuchungen – schon um der Gefahr eines entgrenzten Moralisierens zu entgehen, dem zufolge alle Katzen nur entweder schneeweiß oder rabenschwarz sein können.

Erstens: Ein Amtsträger – ob Bundespräsident oder ein anderer – schuldet den Bürgern eine untadelige Amtsführung, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Er schuldet uns also nicht in seiner Privatsphäre ein überdurchschnittliches moralisches Verhalten. Was uns interessiert, ist sein Amtsethos, nicht sein Privatethos. Aus welchen Motiven ein Mensch das Amt oder seine politische Laufbahn angestrebt hat – ob aus Ehrgeiz, Ruhmsucht oder, sofern es so etwas geben sollte, aus selbstloser, "reiner" Dienstbereitschaft –, spielt kaum eine Rolle, sofern dieser Mensch sein Amt pflichtgemäß, im Rahmen des Rechts und der Gesetze, nach bestem Wissen und Gewissen versieht. Diese Anforderungen gelten für den Bundespräsidenten zwar in besonderer Weise, aber eben auch in den genannten Grenzen. Vorbild hat er zu sein – in seiner Amtsführung, nicht aber als sozusagen sündenfreier Gesamtidealist, der genau das repräsentiert, was wir alle ansonsten gerade nicht sind.

Zweitens: Die Amtsführung des Bundespräsidenten steht derzeit überhaupt nicht zur Diskussion. Man mag nicht gerade begeistert von seinem Wirken sein, aber niemand rückt den Bundespräsidenten auch nur in das weitere Vorfeld einer Amtspflichtverletzung.

Drittens: Fragen richten sich ausschließlich an eine Episode aus Christian Wulffs Amtszeit als Ministerpräsident – also die Auskunft über seine Beziehung zu dem ehemaligen Unternehmer Egon Geerkens, einem Freund schon seines Vaters. Er habe als Ministerpräsident mit diesem keine geschäftlichen Beziehungen gehabt. Dann erfuhr man, dass Wulff von dessen Frau einen Privatkredit zum Kauf eines Hauses gewährt bekommen habe. Es widerspricht schon dem gesunden Menschenverstand, dass Egon Geerkens daran nicht beteiligt gewesen soll. Hätte Wulff hingegen gesagt: "Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen hat von Amts wegen Herrn Geerkens keinerlei Aufträge oder Vorteile vermittelt noch davon für sich selber persönliche Vorteile gezogen" (eine Auskunft, die, für sich genommen, ausgereicht hätte), dann aber zum abrundenden Mehrwert hinzugefügt: "Ich als Privatperson habe allerdings von diesem Freund unserer Familie ein Darlehen gewährt bekommen, freilich ohne als Amtsperson auch nur eine Andeutung von Gegenleistung erbracht zu haben" – wer hätte daran ernstlich Anstoß nehmen wollen?

Viertens: Es ist also nochmals zu unterscheiden, und zwar zwischen dem bisher nirgendwo erhobenen Vorwurf einer direkten Amtspflichtverletzung und der unpräzisen und dadurch irreführenden Auskunft vor dem Landtag. Der Hinweis auf das niedersächsische Ministergesetz, dessen zusätzlicher Erlass auch besonders günstige Darlehen verbietet, geht hier ins Leere, weil stets der Vordersatz gilt, "in Bezug auf das Amt" dürften Vorteile nicht gewährt werden. Damit steht in diesem Gesetz nichts anderes als ohnedies im Paragrafen 331 Strafgesetzbuch (Vorteilsnahme durch Amtsträger). Wer es entgegen allen bisherigen Anzeichen anders sieht, kann ja Wulff immer noch wegen angeblicher Vorteilsnahme anzeigen und den Rest der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten überlassen. Es bleibt allerdings der schwerwiegende Vorwurf, dass der damalige Ministerpräsident den Landtag in Hannover mit einer rabulistischen Auskunft beschieden hat, die exakt das nicht war, was rabulistische Auskünfte normalerweise sind, nämlich genau. Es hätte nämlich durchaus – siehe oben – die Möglichkeit einer präzisen und zutreffenden Auskunft gegeben, ohne das an sich nicht offenbarungspflichtige Privatdarlehen anzuzeigen. Diese Unklarheiten belasten Wulff zu Recht, er hat dies eingeräumt und dafür um Pardon ersucht.

Fünftens: Soll ihm dieser Pardon für eine Episode aus seiner Amtszeit als Ministerpräsident verweigert werden – oder kann er weiter Bundespräsident bleiben? Bei der Antwort auf diese Frage ist im Auge zu behalten, dass das Grundgesetz aus Gründen der Staatsstabilität eine Amtsenthebung des Bundespräsidenten nur unter ganz engen und schwerwiegenden Gründen vorsieht, nämlich durch eine Staatsanklage vor dem Bundesverfassungsgericht nach Artikel 61 des Grundgesetzes. Dazu müsste der Bundespräsident, und zwar in seinem gegenwärtigen Amt, vorsätzlich (!) gegen die Verfassung oder ein anderes Gesetz verstoßen haben. Gewiss kann auch aus anderen Gründen ein Rücktritt zur Bereinigung einer politisch bedenklichen Situation angezeigt sein und dem Bundespräsidenten nahegelegt werden. Dennoch ist auch dabei der Grundgedanke des Artikels 61 Grundgesetz im Auge zu behalten: im Interesse der Staatsstabilität nicht ohne Not! Solange es andere Möglichkeiten der Bereinigung oder Entlüftung einer Krise gibt – denn das Leben ist eben nicht nur entweder schneeweiß oder rabenschwarz –, sind sie tunlichst zu nutzen. Das ist auch, neben anderen Motiven der politischen Opportunität, der Grund dafür, dass keine der gewichtigen politischen Kräfte einen Rücktritt von Christian Wulff fordert. Dem kann man sich, ohne die entstandene Lage zu beschönigen, mit guten Gründen anschließen.

Deshalb: Strich unter die Affäre – schon deshalb, weil nach und nach, auch in einigen Medien, Maß und Ziel verloren gehen. Vom Hölzchen aufs Stöckchen, zumal wenn Gratismoralismus und aufgereizter Jagdinstinkt sich gegenseitig emporschrauben – davon hat am Ende niemand etwas. Kein falscher Populismus: Aber wenn die Mehrheit der Bürger in diesem Fall kühler reagiert als in anderen Fällen, dann lasst es gut sein.

Zuerst erschienen auf ZEIT Online.

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