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Rita Süssmuth präsentiert 2004 den Jahresbericht ihrer Kommission. Im selben Jahr löste Bundesinnenminister Schily (rechts) das Gremium auf.

© Daniel Karmann/picture alliance-dpa

Von Rita Süssmuth zu Enver Simsek: Was Deutschland in 20 Jahren lernte - und was nicht

Vor zwei Jahrzehnten ließ die Bundesregierung erstmals positiv über Migration nachdenken. Fast zeitgleich mordete der NSU zum ersten Mal. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

In diese Woche fallen zwei sehr wichtige deutsche Jahrestage – man wird sehen, ob sie auch so begangen werden. Am kommenden Samstag vor 20 Jahren nahm die sogenannte Süssmuth-Kommission ihre Arbeit auf. Die „Unabhängige Kommission Zuwanderung“, die unter dem Namen ihrer Vorsitzenden, der CDU-Politikerin, früheren Familienministerin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, in die Geschichte einging, bekam nicht viel Zeit für ihre Mammutaufgabe. Und als die 20 Fachleute sie im Sommer darauf geschafft hatten, düpierte sie ihr Auftraggeber, Bundesinnenminister Otto Schily, mit eigenen, deutlich restriktiveren Plänen, die er fast zeitgleich vorstellte. Die Unionsparteifreundinnen und -freunde der Vorsitzenden hatten überdies eigene Konkurrenzkommissionen gegründet, um, wie es Rita Süssmuth in einem Rückblick für den Mediendienst Integration vor fünf Jahren diplomatisch ausdrückte, „die Gegenargumente zu formulieren“. In gewisser Weise markiert also dieses Jubiläum den Beginn des politischen Kampfs ums Einwanderungsland Deutschland – dass Deutschland eines war, daran hatte die Kommission keinen Zweifel gelassen.

Am Tag vorm ersten Arbeitstag der Kommission starb Enver Simsek

Womöglich kann man der Süssmuth-Kommission auch das als Verdienst anrechnen, schließlich musste der Streit endlich ausgefochten werden. Was auf jeden Fall von ihr bleibt: Sie hat erstmals in der deutschen Geschichte – nicht nur der bundesdeutschen – im Regierungsauftrag rationale und nicht einzig auf Abwehr gerichtete Vorschläge zur Einwanderung gemacht. Dass das Land Migrantinnen und Migranten braucht – seinerzeit ging es um 50 000 Menschen pro Jahr –, dass der deutsche Schutz für Geflüchtete nicht genügte: Das alles wurde damals festgehalten.

Was auch geschah, allerdings ohne öffentliche Aufmerksamkeit und Erregung: Am Tag zuvor starb Enver Simsek, ein Nürnberger Blumenhändler. Am 9. September 2000 hatten Unbekannte Schüsse auf ihn abgegeben. Simsek war, wie sich elf Jahre später herausstellte, das erste Opfer der NSU-Mordserie. Zehn Morde folgten. Bei neun war Rassismus das Motiv, doch niemals wurde diese Spur, soweit überhaupt gesehen, verfolgt. Stattdessen wurden die Opfer selbst und ihre Familien verdächtigt.

Rassismus - gegen das Wort gibt es noch immer irrationalen Widerstand

Was hat sich in diesen zwei Jahrzehnten getan? Viel seit dem 12. September, dem ersten Arbeitstag der Kommission: Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist Teil des nationalen Selbstbilds geworden. Auch die Union hat sich nach heftigem Widerstand in Regierungsverantwortung zu den Konsequenzen bekannt und – wie meist in der Politik unter gesellschaftlichem Druck – Teilhabepolitiken aufgelegt und sogar Stellungen geräumt, die als unaufgebbar galten, etwa der Zwang zur einen Staatsbürgerschaft.

Der 11. September 2000, an dem Enver Simsek starb, ist noch immer viel zu wenig bearbeitet. Was soll man, fast ein Jahrzehnt nach der, wohlgemerkt, Selbstenttarnung der NSU-Mörder und in Zeiten der Nachfolger von „NSU 2.0“ noch von jenem irrationalen Widerstand halten, der es verhindert, dass die Polizei („Es gibt keinen Rassismus in der Polizei“), dass Schulen, auch Medien, sich eigenem strukturellem Rassismus stellen? „Zu lange haben wir am Alten festgehalten“, schrieb Rita Süssmuth im Rückblick auf die lange Realitätsverweigerung in Sachen Migration. Wie lange wird das noch geschrieben werden müssen?

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