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Rudi Dutschke und der FDP-Politiker Ralf Dahrendorf im Januar 1968 in Freiburg

© Strumpf/AKG

50 Jahre Studentenproteste 1968: Wie wütende Studenten eine Revolte gegen das braune Erbe anstießen

Zwei Jahrzehnte waren die Verbrechen der NS-Zeit unter den Teppich gekehrt worden. Aber da sollten sie nicht länger bleiben. Das Verschweigen provozierte nun Protest.

Die Geschichte der Studentenrevolte begann schon 1961. Damals hatte sich die SPD von ihrem Studentenverband, dem „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS), getrennt und dessen Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Anlass waren die ab Mitte der 1950er Jahre einsetzenden Differenzen: die Fortsetzung der Kampagne gegen die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr, aus der sich die SPD zurückgezogen hatte, der völlig andere Umgang des SDS mit den Nazi-Verbrechen, wie es die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ mit der Strafanzeige gegen 43 amtierende ehemalige Nazi-Richter demonstrierte und schließlich die Kritik am „Godesberger Programm“ der SPD, das für den SDS die Anpassung an das kapitalistische System und den Verzicht auf jede Veränderung der Gesellschaft bedeutete.

Der Studentenbund verstand sich ab jetzt als Teil einer europäischen Linken jenseits von stalinisiertem Kommunismus und bourgeoisierter Sozialdemokratie und sah es als seine Hauptaufgabe an, ein „kritisch-politisches Bewusstsein“ in der Gesellschaft zu verbreiten. Ausdruck dieser neuen, von allen wahltaktischen Fesseln befreiten Politik waren vor allem drei Projekte des SDS, die eine Studentengeneration prägen sollten: 1. Der Kampf um die Demokratisierung der Universitäten und gegen den „Muff von 1000 Jahren“. Als konzeptionelle Grundlage dafür diente die vom SDS 1961 veröffentlichte Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“. 2. Der Widerstand gegen die von der Bundesregierung geplanten, zentrale Grundrechte annullierenden Notstandsgesetze.

Die Revolte begann an der West-Berliner Freien Universität

Der 1965 in Bonn organisierte Anti-Notstands-Kongress mit den Hauptrednern Karl Dietrich Bracher und Jürgen Habermas warnte vor einer Wiederholung der 1933 parlamentarisch verabschiedeten „Ermächtigungsgesetze“. 3. Der Protest gegen den von den USA geführten Krieg in Vietnam. Der 1966 in Frankfurt mit Herbert Marcuse als Hauptredner veranstaltete Kongress „Vietnam – Analyse eines Exempels“ wies nach, dass Vietnam als Modell der Abschreckung für alle aktuellen Befreiungsbewegungen und die künftigen antikolonialistischen Kriege konzipiert war.

Zu diesem Zeitpunkt war die Revolte schon im Gange. Sie hatte ein Jahr zuvor an der West-Berliner FU begonnen, wo die Mitbestimmung der Studentenschaft und die Förderung politischer Gruppen in der Universitätssatzung verankert waren. Dieser Freiraum war allerdings an die Bedingung geknüpft, dass er nur mit Billigung der Professoren und mit antikommunistischer Stoßrichtung genutzt wurde. Als die Studenten diesen Knebelvertrag ablehnten und im Sinne der Hochschuldenkschrift des SDS auf „Mündigkeit und Selbstbestimmung“ bestanden, reagierte die Unileitung mit Zensur und Repression.

Erster Vorlesungsstreik an einer westdeutschen Uni

Im Mai 1965 verweigerte der Rektor Räume für eine Podiumsdiskussion zum Gedenken an das Ende der Nazidiktatur vor 20 Jahren, weil dazu der prominente, aber kritische Journalist Erich Kuby eingeladen worden war. Und der Politologie-Assistent Ekkehart Krippendorff, der Interna dieses Verbotes mitgeteilt hatte, wurde mit der Nichtverlängerung seines Dienstvertrages bestraft. Der AStA reagierte mit dem ersten Vorlesungsstreik an einer westdeutschen Uni.

Als für Jura- und Medizinstudenten die befristete Immatrikulation eingeführt werden sollte und die geforderte Urabstimmung darüber abgelehnt wurde, rief der SDS zu einem Teach-in auf, an dem in Sichtweite des beratenden Akademischen Senats 3000 Studenten teilnahmen. Die zehnstündige Debatte endete erstmals in einem Sit-in, in einen Sitzstreik als Ausdruck des Protestes.

Eier gegen das Amerika-Haus der FU Berlin

Im Februar 1966 demonstrierten 2500 Studenten gegen den Vietnamkrieg: Sie besetzten dabei für 20 Minuten eine Verkehrskreuzung, zogen zum Amerika-Haus und bewarfen, nach Einholung der US-Flagge, die Fassade mit einem Dutzend Eier. Die meisten West-Berliner Zeitungen tobten, und der Rektor der Universität entschuldigte sich beim US-Stadtkommandanten.

Ab jetzt lief der zwischen Senat und Unileitung abgesprochene Countdown gegen die als „Krawallmacher“ und „prokommunistische Kräfte“ abgestempelten Studenten: Unter dem Vorwand, die Verfasser eines beleidigenden Flugblatts der Kommune II zu ermitteln, besetzte die Politische Polizei am 26. Januar 1967 das Büro des SDS und beschlagnahmte dessen Mitgliederkartei. Aufgrund der jetzt verfügbaren Namen und Adressen eröffnete der Rektor im Frühjahr 1967 ein Verfahren zur Überprüfung der „Förderungswürdigkeit“ des SDS.

Verfahren gegen Rudi Dutschke und andere "Rädelsführer"

Das dagegen vom AStA organisierte Sit-in auf dem Campus wurde im Auftrag des Rektors von der Polizei aufgelöst. Gegen vier „Rädelsführer“, alles Vertreter der gewählten Studentenschaft, und den „normalen“ Studenten Rudi Dutschke wurde ein Verfahren zum Ausschluss aus der Uni eingeleitet. Es war die erste Maßnahme eines zwischen Uni-Leitung und West-Berliner Senat vereinbarten „Vier-Phasen-Stufenplans“, der als nächste Schritte die Relegation von weiteren 250 politisch „auffälligen“ Studenten, die Schließung der Universität und im Extremfall die Einsetzung eines Staatskommissars vorsah.

In der vom Studentenparlament angesetzten Urabstimmung, an der Anfang Mai 10 000 Studenten teilnahmen, sprachen 46 Prozent den fünf von Relegation bedrohten Studenten ihr Vertrauen aus, 43 Prozent unterstützten den Rektor. Was der Westberliner Studentenvertreter Wolfgang Lefèvre als prägende Erfahrung aus den Jahren 1965/66 festgehalten hat – „möglichst große Teile der Studentenschaft in den Konflikten Formen des Protestes diskutieren und erfahren zu lassen“ und mithilfe der neu entdeckten Formen von „Plebiszit und Provokation“ in den etablierten Institutionen „eine Gegenmacht zu diesen zu entfalten“ – dieses erfolgreiche Konzept wurde von den meisten SDS-Gruppen in der Bundesrepublik übernommen.

Die so entstandene hyperaktive „antiautoritäre“ Bewegung unterschied sich grundsätzlich von den Politikformen und theoretischen Grundlagen des „alten“ SDS, der bedingungslos den praxisfeindlichen Meistern der „Frankfurter Schule“ gefolgt war: Max Horkheimer – „Die Theorie ist zur Statthalterin der Befreiung“ geworden; oder Theodor W. Adorno – „Denken ist Tun“; oder als Praxis-Ersatz die Variante von Herbert Marcuse – „Die große Verweigerung“. Anfangs überlappten sich noch die beiden politischen Linien, spätestens ab 1966 drifteten sie auseinander.

Ein Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit, der sich rächte

Der Grund dafür war die Tatsache, dass der neue Politik-Stil des SDS auch von einer anderen Generation bestimmt wurde – von den Jahrgängen 1939 bis 1949, die das „Dritte Reich“ nicht mehr bewusst oder gar nicht erlebt hatten. Norbert Elias hat den Eliten der Bundesrepublik vorgeworfen, sich in der Frühzeit der Bundesrepublik angemaßt zu haben, einfach „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“. Das habe sich „bitter gerächt“: ein dramatischer „Bruch zwischen den Erfahrungswelten der vor und der nach dem Kriege Herangewachsenen“ sei die Folge gewesen. Die Töchter und Söhne, so Elias, hätten die „als inhuman empfundenen“ Haltungen und Ideale der Väter- und Mütter-Generation abgelehnt und sich damit „zu einem humanistischeren Ethos“ bekannt. Dieser neue Habitus war durch ein von der Nazigeneration auf die Nachgeborenen übertragenes Schuldgefühl und den damit einhergehenden Verlust eines „Urvertrauens“ in die deutsche Gesellschaft bestimmt. Gerd Koenen, ein Angehöriger dieser Nachgeborenen, hat diesen Schock so beschrieben: „Wir waren spätestens ab jetzt so etwas wie Überlebende, Verfolgte des Naziregimes! Fremde im eigenen Land.“

Hannah Arendt war den Kindern dieser Mütter und Väter bei einer Tagung mit Studenten einer Studienstiftung im Mai 1961 in Westdeutschland begegnet. Sie berichtete darüber in einem Brief an ihren Ehemann in den USA: „Wir sprachen über den Eichmann-Prozess und davon ausgehend über Gott und die Welt, aber doch im Wesentlichen über Politik. Adenauer war sehr unbeliebt, obwohl die anwesenden Professoren versuchten, ihn zu verteidigen. Sie wissen, sie leben in einem unbeschreiblichen Saftladen. Man könnte mit ihnen etwas machen, aber es ist niemand da, der mit ihnen spricht. Der Generationenbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Vätern nicht reden, weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren.“

Der Tod von Benno Ohnesorg verstärkte das Gefühl der Fremdheit

Ich gehörte zu dieser Generation und habe die von der SPD 1960 aufgelöste SDS-Gruppe an der Universität Bonn 1965 neu gegründet. Die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 hat dieses aus Trauer und Wut gemischte Gefühl der Fremdheit dramatisch verstärkt.

„Mit Kurras’ Schuss“, so der Kommentar des Schriftstellers Peter Schneider, „hatten sich zwanzig Jahre Versäumnis, Beschwichtigung und Geschichtsvergessenheit zu einer einzigen Untat verdichtet. Aus ein paar tausend anpolitisierten Schülern und Studenten wurden binnen Tagen und Wochen Hunderttausende, die die Vertrauensfrage stellten. Die Autorität der Eltern, der Lehrer und Professoren ging auf breiter Front in die Brüche. Das Misstrauen gegen das vom Dritten Reich übernommene Personal der Bundesrepublik ließ sich plötzlich nicht mehr als eine aus dem Osten gesteuerte kommunistische Kampagne abtun.“ In den nächsten anderthalb Jahren wurden dann die Fundamente der alten Bundesrepublik zertrümmert.

Wer die Augen nicht im Affekt verschließt“, so hat der Philosoph Jürgen Habermas bilanziert, „wird zugeben müssen: Diese Revolte war für die politische Kultur der Bundesrepublik ein Einschnitt, in den heilsamen Folgen nur übertroffen von der Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten im Jahre 1945.“

Hannes Heer ist Historiker, Regisseur und Publizist. Bekannt wurde er, als er in den 90er Jahren in einer Ausstellung erstmals die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in der NS-Zeit dokumentierte.

Hannes Heer

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