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Recep Tayyip Erdogan (r.) und Binali Yildirim vor der ersten Wahl Ende März

© imago images / Depo Photos

AKP-Kandidat unterliegt in Istanbul: Erdogan ist der zweite große Verlierer

Erdogan und seine AKP wollten das Ergebnis der ersten Wahl in Istanbul nicht akzeptieren. Bei der erneuten Abstimmung wird die Niederlage noch deutlicher.

Binali Yildirim ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, wann das Spiel aus ist. Zeitgleich mit der Veröffentlichung der ersten offiziellen Ergebnisse bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in der türkischen Metropole Istanbul am Sonntagabend tritt Yildirim vor die Kameras – und gesteht seine Niederlage ein.

Er gratuliert dem Wahlsieger, dem Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu, zu dessen Erdrutschsieg. Imamoglu hat Yildirim und die Regierungspartei AKP in Istanbul nicht nur geschlagen, er hat sie mit einem Vorsprung von hunderttausenden Stimmen regelrecht gedemütigt. Neben Yildirim heißt der zweite große Verlierer dieses Abends Recep Tayyip Erdogan.

Knapp 54 Prozent der zehn Millionen Wähler in der Riesenstadt haben für Imamoglu votiert, rund 45 Prozent für Yildirim; die verbleibenden Stimmen verteilen sich auf die Kandidaten von kleineren Parteien. Bei der regulären Wahl im März hatte Imamoglu mit einem Vorsprung von weniger als 14.000 Stimmen gewonnen. Jetzt sind es knapp 800.000.

Als Erdogan und die AKP nach der März-Wahl die Wahlkommission so lange unter Druck setzten, bis sie die Neuwahl ansetzte, verärgerten sie damit viele Wähler offenbar so sehr, dass sie jetzt erst recht für Imamoglu stimmten. Auch die AKP-Basis habe gegen die Entscheidung zur Wahlwiederholung protestiert, kommentiert der Journalist Fatih Polat auf Twitter.

Es war ein offenes Geheimnis in den vergangenen Wochen, dass der 63-jährige Yildirim nur widerwillig in die neue Schlacht zog. Yildirims Ehefrau Semiha nannte die Wahlwiederholung eine „Quälerei“. Gegen die Dynamik des 49-jährigen Imamoglu von der säkularistischen Partei CHP, der linke wie konservative und kurdische Wähler hinter sich vereinigte, hatte Yildirim keine Chance. Nach 25 Jahren unter islamisch-konservativen Bürgermeistern bekommt die größte Stadt der Türkei jetzt mit Imamoglu jetzt zwar wieder einen frommen Muslim als Verwaltungschef, aber einen von links der Mitte.

Stärke der Demokratie gezeigt

Als Wahlsieger tritt Imamoglu rund eine halbe Stunde nach Yildirim vor die Mikrofone und lobt, die Türken hätten „der ganzen Welt gezeigt, wie stark ihre Demokratie ist“. Er beschwört er mit seiner im Wahlkampf heiser gewordenen Stimme eine Politik mit „Recht, Gerechtigkeit, Toleranz und Liebe“.

Der frühere Bezirksbürgermeister Imamoglu weiß, dass er ab jetzt Erdogans Hauptgegner in der türkischen Politik ist. Rhetorisch stellt sich der neue Bürgermeister schon auf eine Stufe mit dem Staatspräsidenten, an den er sich ausdrücklich wendet: Es sei „wichtig, dass wir zusammenarbeiten“, ruft er Erdogan zu.

Bewusst grenzt sich Imamoglu mit seiner Botschaft der Versöhnung von Erdogans polarisierendem Stil ab. „Dies ist kein Sieg, dies ist ein Neubeginn“, sagt er und ruft seine Anhänger auf, bei den Siegesfeiern Rücksicht auf die Gefühle anderer Wähler zu nehmen. „Wir wollen uns morgen noch in die Augen sehen können.“ Er beschließt seine Rede mit seinem Wahlslogan: „Alles wird gut.“

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Für Erdogan dagegen ist der Abend nicht nur eine politische, sondern auch eine persönliche Katastrophe. Im Jahr 1994 hatte er seine Karriere als Istanbuler Bürgermeister begonnen – jetzt verliert seine Partei die Herrschaft über seine Heimatstadt, nachdem sie im März bereits die Macht in der Hauptstadt Ankara und anderen Städten verloren hatte. In den letzten Tagen hatte sich Erdogan in den Wahlkampf eingeschaltet, um das Blatt noch zu wenden. Doch die Wähler folgten ihm nicht mehr.

Wie Erdogan reagiert, bleibt zunächst offen

Niemand in der Türkei hätte erwartet, dass sich der alte Fuchs Erdogan so verrechnen könnte: Statt die knappe Niederlage im März hinzunehmen, fügte er sich selbst und seiner Partei ohne Not die schlimmste Schlappe seit der Gründung der AKP im Jahr 2001 zu. Die völlige Fehleinschätzung der Lage passt zu Berichten aus der Machtzentrale in Ankara, wonach Erdogan nur noch von Ja-Sagern umgeben ist in seiner Blase an einem Realitätsverlust leidet.

Einige Beobachter rechnen nun mit vorgezogenen Neuwahlen. Der Journalist Hakki Özdal schrieb auf Twitter, das gesamte von Erdogan errichtete Präsidialsystem stehe jetzt zur Disposition. Per Twitter gratuliert Erdogan dem Wahlsieger am späten Abend. Yildirims Eingeständnis der Niederlage hat klar gemacht, dass die AKP nicht erneut versuchen wird, das Wahlergebnis anzuzweifeln. Doch was Erdogan über die Wahl denkt, bleibt zunächst sein Geheimnis: Der Präsident zeigt sich nicht in der Öffentlichkeit. Vielleicht hat er in seinem Istanbuler Haus das Hupen der Autokorsos von Imamoglus Anhängern hören können.

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