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Mustafa Öztürk

© Privat

Aus der Türkei verjagt: Islamischer Theologe findet Zuflucht in Deutschland

In der Türkei wird der Freiraum auch für Akademiker immer kleiner. Der Theologe Mustafa Öztürk war konservativer Hetze ausgesetzt – und verließ das Land.

Als sein Flug nach Deutschland aufgerufen wurde, stellte Professor Mustafa Öztürk den Kaffeebecher ab und setzte einen letzten Gruß an seine Heimat ab. „Ich wünsche allen in diesem Irrenhaus geistige Gesundung“, schrieb er auf Instagram. „Ich gehe jetzt.“

Öztürk, der vergangene Woche aus Istanbul an die Universität Münster wechselte, ist nicht der erste türkische Akademiker, der sein Land verlassen muss – und er wird auch nicht der letzte sein.

Bemerkenswert an seinem Fall ist aber sein Fach: Öztürk ist Professor für islamische Theologie und lehrte bis vor drei Monaten noch an der staatlichen Marmara-Universität. Einst wurde an den Fakultäten für islamische Theologie in der Türkei frei nachgedacht und diskutiert über Gott, die Welt und den Koran – doch damit ist es nun auch vorbei.

Mit einem Video wurde Öztürk im Dezember in regierungsnahen Medien und sozialen Medien angeprangert - heimlich aufgenommen und von schräg unten gefilmt, als zeige es einen Gauner bei einem Verbrechen. Dabei zeigt es den Universitätsprofessor im Gespräch mit seinen Doktoranden. Im Koran gebe es einige Passagen mit derben Flüchen, sagt Öztürk und liest einen solchen Vers vor, um dann anzufügen: „Ist das wirklich die Sprache Gottes? Oder nicht doch eher menschliche Sprache?“

Hätte Öztürk in dem Video tatsächlich einen Bankraub geplant oder ein Attentat, wäre er wahrscheinlich besser davongekommen als mit dieser Äußerung. Einen Sturm der Entrüstung lösten seine Worte aus, als der Clip sich in den sozialen Medien verbreitete – heftig aufgepeitscht durch konservative Geistliche wie Cübbeli Ahmet, einen populären Prediger der Ismailaga-Bruderschaft mit Millionen Anhängern auf Facebook und Twitter. „Der Mann untergräbt unseren Glauben, er lästert über den Koran“, wetterte Cübbeli. „Ich rufe das Religionsamt auf: Worauf wartet ihr noch? Wie weit soll der Mann noch gehen, bis ihr ihn endlich absetzt?“

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Der Videoclip lieferte den Bruderschaften einen willkommenen Anlass für eine Kampagne gegen Öztürk, der über die Universität hinaus durch Zeitungskolumnen und Fernseh-Talkshows bekannt ist. Denn mit seiner Bemerkung über die Sprache des Koran stellte der Theologe eine fundamentale Auffassung vieler Muslime über die Offenbarung infrage. „Nach Auffassung der meisten Muslime hat Gott dem Propheten bestimmte Worte diktiert – demnach sind dies wortwörtlich die tatsächlichen Worte Gottes“, erläutert der Islam-Experte und Autor Mustafa Akyol. „Öztürk vertritt eine alternative Sichtweise, die in der islamischen Tradition existiert, aber selten ist. Sie besagt, dass Gott den Propheten inspiriert hat, und dass der Prophet diese Inspiration in Worte gefasst hat, mit seiner eigenen Sprache.“

„Ich räume das Feld“

In den konservativen Medien der Türkei und im Internet begann eine Hetzjagd auf Öztürk. Mit tausenden Tweets forderten Anhänger der Bruderschaften die sofortige Amtsenthebung des Hochschullehrers, manche Nutzer bedrohten ihn. Das staatliche Religionsamt schwieg sich aus und sah der Treibjagd zu, ohne einzugreifen. Öztürk war Anfeindungen nicht zum ersten Mal ausgesetzt, doch diesmal gab er sich geschlagen - er legte seine Professur nieder und trat zurück.

„Was ist, wenn nun ein Verrückter kommt, der von dieser Kampagne aufgeputscht ist und ins Paradies kommen will, indem er Mustafa Öztürk auslöscht?“, verteidigte er seine Entscheidung. „Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, ich halte das nicht mehr aus. Und deshalb sage ich: Bitte sehr, ich gehe ja schon, ich räume das Feld.“

Ein Verlust für die Theologie in der Türkei sei das, sagt Autor Akyol, der in seinem neuen Buch „Reopening Muslim Minds“ für eine neue islamische Aufklärung plädiert. Öztürk habe als Vertreter des sogenannten Historismus die Grenzen für Reform im Islam erweitert. „Demnach sind die islamische Tradition, der Koran und die Hadithe, also die Überlieferungen des Propheten, in einem bestimmten historischen Kontext entstanden - und heute, da wir in einem ganz anderen historischen Kontext leben, könnten wir den Koran, die Hadithe und die islamische Rechtsprechung neu interpretieren.“

Allein war Mustafa Öztürk mit seinen Ansichten nicht. Der Professor zählt zu einer Reihe von türkischen Theologen, die für eine historisch-kritische Interpretation des Koran eintreten – eine Strömung, die als „Schule von Ankara“ bezeichnet wird, weil sie einst an der theologischen Fakultät von Ankara entstand. Heute reicht sie bis nach Deutschland: Einer ihrer Vertreter, Ömer Özsoy, lehrt als Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt. Mit Öztürk in Münster kommt nun ein weiterer prominenter Verfechter der Schule dazu.

Zentrum für Islamische Theologie bietet Zuflucht

In der Türkei selbst schrumpft der Freiraum für Meinungsvielfalt seit Jahren. Von einem traditionsreichen Theologen-Symposium in Istanbul wurde Ömer Özsoy vor zwei Jahren kurzfristig ausgeladen, weil es Proteste und Drohungen gab. Mustafa Öztürk konnte damals noch auftreten; im Schlusswort seines Vortrages wandte er sich mit einer Warnung an das Publikum. „Wenn das so weitergeht in diesem Land mit der Intoleranz und Anmaßung, dann werden wir denselben Weg gehen wie Afghanistan und Pakistan”, warnte Öztürk schon damals. „Der Staat muss klarstellen, dass dieses Land nicht den Scheichs und Bruderschaften gehört; er muss die Stimmenvielfalt dieses Landes schützen und bewahren, er muss diese faschistoide Hetze stoppen.”

Doch der türkische Staat dachte nicht daran, die Hetze zu stoppen, und nun musste Öztürk ins Exil. Zuflucht fand er am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster, dessen Leiter Mouhanad Khorchide ihn zur Mitarbeit einlud. Das Zentrum arbeitet an einer historisch-kritischen Koran-Ausgabe und kann einen Experten wie Öztürk gut brauchen, wie Khorchide dem Tagesspiegel sagte: „Wir benötigen in der islamischen Theologie dringend Reibungsflächen sowie geschützte akademische Räume für Debatten, für Argumente und Gegenargumente – nur so kann sich die islamische Theologie weiterentwickeln.“ Die Universität bekomme viele Hassmails wegen ihrer Einladung an Öztürk, werde aber für die wissenschaftliche Freiheit einstehen und sich nicht einschüchtern lassen.

Auch in den türkischen Medien hallten die Verwünschungen und Drohungen gegen Öztürk noch nach, als er schon in Deutschland angekommen war. Der Professor habe sein Recht auf Leben verwirkt, hieß es in einigen Kommentaren: „Schlagt ihm den Schädel ein.”

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