zum Hauptinhalt
Klare Kante, zumindest beim Verkaufen der eigenen Ansichten: Liz Truss bei einem BBC-Interview am 4. September 2021

© AFP/Jess Overs

Brexit-Hardlinerin oder Retterin des Wohlstands: Die neue britische Premierministerin steht vor einer schwierigen Entscheidung

Liz Truss wird Nachfolgerin von Boris Johnson. Als britische Premierministerin muss sie wohl einige alte Überzeugungen über Bord werfen müssen. Ein Gastbeitrag.

Jeremy Cliffe ist Autor des politischen Wochenmagazins „New Statesman“. Tim Steins hat seinen Beitrag aus dem Englischen übersetzt.

Liz Truss ist als Siegerin aus dem Rennen innerhalb der Konservativen Partei um die Nachfolge von Boris Johnson hervorgegangen und wird am Dienstag von der Queen zur neuen britischen Premierministerin ernannt. Für sie ist dies der Höhepunkt einer langen politischen Reise.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Truss wuchs nach eigenem Bekunden in einem „linken Haushalt“ auf und begleitete ihre Eltern auf Protestmärsche. Später trat sie den zentristischen Liberaldemokraten bei und hielt mit 19 Jahren auf deren Konferenz eine Rede, in der sie die Abschaffung der britischen Monarchie forderte. Im Laufe der Zeit wechselte sie von der linken Seite des Spektrums auf die marktfreundliche rechte.

An der Universität las Truss Friedrich von Hayek. Sie entdeckte ihre Liebe zum Unternehmertum und der Privatwirtschaft – und trat der Konservativen Partei bei. Das war Mitte der 1990er Jahre: Tony Blairs New Labour war auf dem Siegeszug. Die Tories waren nach dem Sturz von Margaret Thatcher äußerst unpopulär. Ein Parteibeitritt war somit ein klares ideologisches Statement.

Als sie 2010 ins House of Commons gewählt wurde, hatte Truss sich endgültig dem rechten Libertarismus zugewendet. Sie gründete die Free Enterprise Group, einen Kontaktpunkt für andere marktfreundliche Tory-Abgeordnete ihrer Generation, die sogenannten „Thatcher-Kinder“. Sie fiel vor allem durch ihren Einsatz für Deregulierung, niedrigere Steuern und einen kleineren Staat auf.

Als sie in der Ministerriege aufstieg – zunächst im Bildungsministerium, dann in den Ressorts Umwelt, Justiz, Finanzen, internationaler Handel und zuletzt als Außenministerin – wurde sie zu einer zentralen Akteurin in einem transatlantischen Netzwerk wirtschaftsfreundlicher Think Tanks.

In libertären Kreisen

Dieses Netzwerk verdankt seine Entstehung der Mont Pelerin Society, die nach einer von Hayek 1947 in der Schweiz veranstalteten Versammlung von Wirtschaftswissenschaftlern benannt wurde. Mitglieder dieser Gruppe gründeten später marktliberale Think Tanks in den Vereinigten Staaten (wie das libertäre Cato Institute und die konservative Heritage Foundation) und im Vereinigten Königreich (wie das IEA, das Institute for Economic Affairs, und das Adam Smith Institute). Diese lieferten letztlich die intellektuelle Grundlage für die Reaganomics in den USA und den Thatcherismus in Großbritannien.

Um Truss zu verstehen, muss man dieses Netzwerk verstehen. Es handelt sich um ein enges transatlantisches Geflecht aus Intellektuellen und Institutionen zwischen Washington und London. Die Free Enterprise Group zum Beispiel fungierte praktisch als parlamentarischer Arm des IEA. Truss hat viele ihrer hochrangigen politischen Mitarbeiter aus Institutionen wie dem IEA und dem Adam Smith Institute angeworben.

Ihre Vision legte Truss 2018 in einer Rede beim Cato Institute dar. Sie wolle einen neuen „anglo-amerikanischen Traum“ mit weniger Regulierung und niedrigeren Steuern für die Generation der „Market Millennials“, wie sie sie nannte. Dabei handle es sich um junge Menschen, die mit der Internetwirtschaft aufgewachsen seien und ein hohes Maß an Wahlmöglichkeiten und individueller Freiheit einforderten.

„Freies Unternehmertum ist eine Ode an Individualität und Nonkonformismus“, erklärte Truss ihrem amerikanischen Publikum. Dieses freie Unternehmertum ermögliche es „der Jugend, zu florieren und dem Anti-Establishment, sich zu entfalten“.

Darling des „Hard Brexit“-Flügels

Die einzige größere Abweichung war Truss’ Entscheidung, sich im Gegensatz zum Rest der libertären Rechten in der Konservativen Partei beim Referendum 2016 gegen den Brexit auszusprechen. Dies ist wohl am ehesten als Opportunismus zu verstehen. Denn seither hat sich Truss zum Darling des „Hard Brexit“-Flügels der Tories entwickelt.

Sie stilisiert sich als Kämpferin für ein atlantisch und unternehmerisch geprägtes Großbritannien, das von den vermeintlichen Zwängen des EU-Marktes – und damit des europäischen Sozialmodells – befreit wurde. Während des aktuellen Führungskampfes hat sie stets betont, dass sie im Streit um Warenkontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des UK keine Kompromisse mit der EU eingehen wird.

Doch es gibt ein Paradox: Truss übernimmt das Amt inmitten eines wirtschaftlichen Hurrikans. Die Inflation im Vereinigten Königreich wird voraussichtlich einen Höchststand von 22 Prozent erreichen, und die Realeinkommen werden bis 2024 um zehn Prozent sinken. Schon jetzt gehen viele kleine Unternehmen pleite – unter anderem die von den Briten so geliebten Pubs.

In Westminster ist man sich weitgehend einig, dass sich Truss’ Vorschläge, die Haushalte durch Steuersenkungen statt durch „Almosen“ zu entlasten, als völlig unzureichend erweisen werden.

Vielmehr wäre ein gigantisches Paket diverser staatlicher Eingriffe nötig, um eine weitreichende Verarmung zu verhindern. Langfristig werden die Steuern steigen müssen, um dies zu finanzieren. Truss’ Vorstellung, sie habe den politischen und wirtschaftlichen Spielraum, um einen Handelskrieg mit der EU zu führen (die immer noch der bei weitem größte Handelspartner des UK ist), ist schlicht lachhaft.

Truss muss sich festlegen. Sie kann an ihren tief verinnerlichten und lange gehegten Hayek’schen und Hard-Brexit-Prinzipien festhalten. Oder sie kann diese Prinzipien über Bord werfen und stattdessen staatliche Wirtschaftsmaßnahmen sowie eine kompromissbereite Brexit-Politik anbieten, um den Einbruch im Lebensstandard der Britinnen und Briten zu begrenzen - und sich damit eine Chance sichern, bei den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2024 an der Macht zu bleiben. Die Frage ist: Wie entscheidet sich Liz Truss?

Jeremy Cliffe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false