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Christliche Flüchtlinge: "Muslime helfen uns – aber Europa? Nein"

Die Türkei nimmt immer mehr irakische Christen auf. Viele von ihnen würden gern nach Europa weiterreisen. Doch Europa zeigt sich zugeknöpft

Unter dem Jesus-Bild an der Wand schüttelt Hadeer Khawaja verständnislos den Kopf. Im Büro der kleinen christlichen Hilfsorganisation KADER in Istanbul trifft Khawaja in diesen Tagen viele christliche Flüchtlinge aus dem Irak, die Hilfe und Rat suchen. Khawaja ist selbst einer von ihnen: Im April floh er in die Türkei, nachdem er von Extremisten in Bagdad bedroht worden war. Seitdem hilft er bei KADER aus, hört sich die Lebensgeschichten seiner Landsleute an, erfährt von ihren Träumen für die Zukunft. Daher weiß er, dass so mancher Flüchtling gerne ins christliche Europa weiterreisen würde. Aber die Europäer „öffnen ihre Türe nicht“, sagt Khawaja halb entrüstet und halb erstaunt, als könne er es selbst kaum glauben.

Während sich die Europäer zugeknöpft zeigen, wird ausgerechnet die wegen ihres Umgangs mit den Christen so häufig gescholtene Türkei zu einem sicheren Hafen für immer mehr verfolgte Christen aus dem Nachbarland Irak. KADER verzeichnet besonders nach den jüngsten Anschlägen auf Kirchen in Bagdad einen verstärkten Zulauf. Derzeit halten sich rund 3800 irakische Christen in der muslimischen Türkei auf, allein seit Anfang des Monats kamen 300 bis 400 Menschen.

„Wenn man in Bagdad zur Arbeit geht, kann man nicht sicher sein, dass man abends wieder heil nach Hause kommt“, sagt Khawaja, ein 37-jähriger Ingenieur. „Jeden Tag werden Christen getötet. Alle haben Angst.“ Von anderen Flüchtlingen aus Bagdad hat er kürzlich erfahren, dass sein Haus in der irakischen Hauptstadt von islamistischen Extremisten in die Luft gejagt worden sei. Für Khawaja wie für die meisten anderen, die sich nach ihrer Flucht bei KADER melden, gibt es kein Zurück.

„Sie kommen mit dem Bus oder mit dem Flugzeug, und alles was sie haben, steckt in einem Koffer“, sagt Francois Yakan, der Leiter von KADER. Yakan ist Patriarchalvikar und damit geistliches Oberhaupt der Chaldäischen Kirche in der Türkei. Die Chaldäer, zu denen die meisten irakischen Christen gehören, erkennen den Papst als höchste kirchliche Autorität an, haben aber ihren eigenen Ritus. In der Türkei gibt es etwa 1000 Chaldäer, im Irak gab es bis zur westlichen Invasion gegen Saddam Hussein 2003 mehr als 1,2 Millionen Christen. Heute sind es weniger als 500.000. Viele flohen nach Syrien oder den Libanon, wo Arabisch gesprochen wird. Doch trotz der Sprachbarriere zieht die Türkei inzwischen immer mehr von ihnen an.

Patriarchalvikar Yakan stammt aus dem äußersten Südosten der Türkei, er hat in Frankreich gelebt und arbeitet seit zwölf Jahren in Istanbul. Obwohl er bei seiner Arbeit tagtäglich mit Leid und mit Ungerechtigkeit konfrontiert wird, verströmt der 52-jährige Energie und gute Laune. Während er durch die Räume von KADER eilt, muntert er hier ein paar Flüchtlinge auf und ruft dort einem Mitarbeiter einen Scherz zu. Doch wenn die Rede auf die Europäer kommt, wird Yakan ernst. „Die europäischen Staaten sind knauserig“, sagt er.

Zwar nahmen europäische Länder in den vergangenen Jahren hin und wieder eine begrenzte Zahl irakischer Christen auf, doch Aktionen wie die von Frankreich, das kürzlich 150 Christen aufnahm, sind eher symbolisch, wie Yakan sagt: „für die Medien“. Erst vergangene Woche lehnte die Innenministerkonferenz in Hamburg einen Vorstoß des Berliner Senates ab, 2500 Christen aus dem Irak aufzunehmen.

In Istanbul sorgt die katholische Hilfsorganisation Missio dafür, dass KADER ordentliche und moderne Räume mieten kann. Doch von Unterstützung europäischer Staaten ist in Yakans Alltag nichts zu sehen. Nach den jüngsten Kirchen-Anschlägen in Bagdad wurde der Vikar von muslimischen Verbänden in der Türkei und von den türkischen Behörden gefragt, ob KADER irgendetwas brauche. „Aber Europa? Nein.“

Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten

Auch in der Türkei ist das Leben alles andere als rosig für die Flüchtlinge. Da sie nicht arbeiten dürfen, leben viele in großer Armut. Ankara betrachtet die irakischen Christen als Gäste, nicht als Einwanderer. Geduldet werden die Flüchtlinge nur, bis das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ein Land gefunden hat, das sie dauerhaft aufnimmt. Aber zumindest können sie hier erst einmal bleiben und müssen nicht mehr tagtäglich um ihr Leben fürchten.

Auch vergibt Ankara ohne weiteres Visa an irakische Christen - was an sich schon mehr ist, als die Christen von den Europäern erhalten, wie Yakan anmerkt. Auch Khawaja kam mit Hilfe eines türkischen Visums aus Bagdad heraus. Das Visum bewahrt die Flüchtlinge auch vor der Illegalität. „Wir wollen nicht, dass die Leute den Schleppern in die Hände fallen“, sagt Yakan. Und selbst die nur vorübergehende Duldung der Flüchtlinge in der Türkei bedeutet, dass die Iraker durchschnittlich zwei bis drei Jahre bleiben. Keine Selbstverständlichkeit für ein im europäischen Vergleich nicht gerade wohlhabendes Land.

Hinzu kommt, dass die türkischen Behörden offen sind für pragmatische Lösungen, sagt Yakan. „Vor einem Monat ordnete das Bildungsministerium an, dass Flüchtlingskinder gratis staatliche Schulen besuchen dürfen. Das ist sehr wichtig für uns.“

In Istanbul hilft KADER den Irakern mit der Anmeldung beim UNHCR, mit Kleidern, mit Medikamenten und falls nötig auch mit Lebensmittelkarten und mit Übersetzern, wenn ein Arztbesuch nötig ist. Mehrere staatliche Krankenhäuser in Istanbul behandeln die Iraker kostenlos.

Zusammen mit der türkischen Flüchtlings-Hilfsorganisation ASAM, die gleich nebenan ein Büro hat, kümmert sich KADER nicht nur um irakische Flüchtlinge, sondern um Menschen aller Regionen und jeder Herkunft. Als Yakan bei ASAM vorbeischaut, sitzen vier junge Männer aus Aufghanistan, dem Kongo, Somalia und dem Sudan mit einer amerikanischen Lehrerin zusammen und pauken Englisch. Die Lehrerin, die wie die meisten hier ehrenamtlich arbeitet, erklärt ihren Schülern die Bedeutung des Wortes „wünschen“. Einer der jungen Männer begreift sofort: „Ich wünsche mir, dass ich in ein gutes Land komme“, sagt er.

Für die irakischen Christen ist die Türkei für den Übergang solch ein gutes Land, und nicht nur wegen der Duldung, wie Khawaja sagt. Die westlich ausgerichtete Republik scheint vielen Christen sicherer als arabische Staaten. „Wir können den arabischen Ländern nicht vertrauen, die ändern ständig ihre Politik. Die Türkei ist besser.“

Hoffen auf die USA

Bei der Frage, in welches Land sie nach dem Aufenthalt in der Türkei weiterreisen wollen, stehen für viele irakische Christen europäische Staaten ganz oben auf der Wunschliste. Aber Länder wie Schweden oder Deutschland ließen niemanden mehr herein, sagt Khawaja. Und weil die Iraker den illegalen Weg nach Europa scheuten, bleibe oft nur den Antrag auf Einwanderung nach Amerika. „Sie wollen nicht in die USA, aber sie haben keine andere Wahl, und zurück können sie auch nicht.“

Für Khawaja selbst gab es nie einen Zweifel: Seine Mutter und seine Schwester leben seit vier Jahren in den USA. Schon bald könnte er ebenfalls dort sein. „Gerade habe ich einen Anruf bekommen, ich soll meinen Gesundheitstest machen“, berichtet er lächelnd: Die USA nehmen ihn auf. „Ich hoffe, dass ich schon Weihnachten zusammen mit meiner Familie feiern kann“, sagt er. „Heute ist mein Glückstag.“

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