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Migranten aus der Subsahara kurz bevor sie von Italiens Küstenwache aufgenommen werden (Archivbild)

© dpa/AP/Francisco Seco

„Das Sterben macht auch keine Sommerpause“: Was ein Grünen-Abgeordneter auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer erlebt hat

Der Grünen-Politiker Julian Pahlke verbringt den Sommer mit Seenotrettern von Sea Eye. Er erlebt, wie 87 Geflüchtete nach Tagen einen sicheren Hafen finden.

Das Urlaubsparadies hatte Julian Pahlke seit dem Wochenende vor Augen. Die sizilianische Küste war ganz nah, doch für den Grünen-Politiker und seine Crew war sie zunächst unerreichbar. Denn der Bundestagsabgeordnete ist in der parlamentarischen Sommerpause nicht im Urlaub und macht auch keine Sommertour durch seinen Wahlkreis, sondern ist seit nun knapp zwei Wochen auf der Sea Eye 4, einem zivilem Rettungsschiff, das im Mittelmeer Geflüchtete sucht und rettet.

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„Ich mache das, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Das Sterben auf dem Mittelmeer macht ja auch keine Sommerpause“, sagt Pahlke am Telefon. Tatsächlich dreht sich die öffentliche Debatte in diesem Jahr vor allem um die ukrainischen Geflüchteten. Doch auch aus Nordafrika versuchen noch immer viele Menschen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen.

Eine gefährliche Route. Rund 45.000 Menschen sollen es seit Januar gewesen sein, mehr als 1000 Tote zählen internationale Hilfsorganisationen allein im Jahr 2022. Zuletzt geriet ein Boot nahe der griechischen Ferieninsel Rhodos in Seenot. Rund 50 Menschen werden seitdem vermisst.

„Das war eine dramatische Rettung“, sagt Pahlke

Auch die Sea Eye 4 hat bereits kurz nach dem Auslaufen 87 Geflüchtete auf hoher See zwischen Libyen und Malta aufgenommen. „Das war eine dramatische Rettung“, sagt Pahlke. Seit drei Tagen hatten die Geflüchteten auf dem kleinen Holzschiff ausgeharrt, die Wellen schlugen hoch und es war stockdunkel.

Die meisten Geretteten seien zuletzt in Libyen gewesen, sagt Pahlke. Der 30-Jährige, der im Bundestag in den Ausschüssen für Inneres, Heimat sowie Angelegenheiten der Europäischen Union sitzt, erzählt von dem, was ihm die Geflüchteten berichtet haben.

Manche hätten dort zwar gearbeitet, doch die Furcht vor Gewalt und Tod sei allgegenwärtig gewesen. „Ein Geflüchteter erzählte mir, dass schwarze Menschen in Libyen keine Rechte haben und berichtete auch von einem Sklavenmarkt, auf dem er verkauft wurde“, berichtet Pahlke. Andere hätten Suizid-Gedanken gehabt oder seien aus Angst geflohen. In den Straßen von Tripolis, wo der Bürgerkrieg gerade neu entflammt, werde mit scharfer Munition geschossen. „Diese Berichte gehen auch an mir nicht spurlos vorbei.“

Grünen-Politiker Julian Pahlke auf der Sea Eye 4.
Grünen-Politiker Julian Pahlke auf der Sea Eye 4.

© promo

Sie schlafen auf Stahlboden und haben keine Privatsphäre

Nach der Rettung begann für die Crew und die Geretteten eine weitere Odyssee. Zwar wurden die Geflüchteten von der Sea Eye 4 in der maltesischen Such- und Rettungszone (sogenannte SAR-Zone) gerettet, doch Malta weigerte sich, das Boot in einen Hafen einfahren zu lassen. Stattdessen wollten die maltesischen Behörden das Schiff nach Regensburg an der Donau schicken – dem Heimathafen der Sea Eye 4.

Für Pahlke ein Skandal mit System. „Die europäische Solidarität versagt im Mittelmeer, aber auch an Land.“ Auf der Suche nach einem anderen sicheren Hafen lag die Sea Eye 4 seit dem Wochenende vor Sizilien – ohne Erlaubnis, einen Hafen anfahren zu dürfen.

Die Stimmung an Bord, so berichtet es Pahlke, wurde von Tag zu Tag frustrierter und gereizter. Der Platz war beengt, Privatsphäre gab es kaum, die Geflüchteten mussten auf dem Stahlboden des Schiffes schlafen, einige brauchten medizinische Betreuung.

Die Sea Eye 4 beschäftigte auch die Bundesregierung: „Zu dem genannten Fall der „Sea Eye 4“ stehen wir über die deutsche Botschaft in Rom mit unseren italienischen Partnern in Kontakt und setzen uns für die zeitnahe Zuweisung eines Ausschiffungshafens ein“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts dem Tagesspiegel. Auch mit Malta stehe man regelmäßig im Kontakt: „Für die Bundesregierung ist es zentral, dass den Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, schnell geholfen wird und sie an Land versorgt werden können.“

Pahlke war schon früher ziviler Seenotretter

Doch das Schicksal der Sea Eye 4 ist kein Einzelfall. Zivile Seenotrettungsschiffe finden oft über Tage und Wochen keinen sicheren Hafen. Die Seenotretter im Mittelmeer sind von den Küstenwachen nicht gerne gesehen, immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. „Die EU muss dafür sorgen, dass solche Hängepartien endlich ein Ende haben“, sagt Pahlke.

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Der Grünen-Politiker beschäftigt sich mit den Problemen der zivilen Seenotrettung seit Jahren. Vor seinem Einzug in den Bundestag im vergangenen Herbst war er selbst Sprecher von „Sea Eye“, zudem 2016 und 2017 zweimal im Einsatz als ziviler Seenotretter mit der Organisation „Jugend Rettet“, denen damals der Vorwurf gemacht wurde, gemeinsame Sache mit Schleppern zu machen.

Der Druck auf die Seenotretter hat Spuren hinterlassen, berichtet Pahlke. „Es sind sehr wenige Rettungsschiffe geworden.“ Zeitweise habe es 13 zivile Seenotrettungsschiffe auf dem Mittelmeer gegeben, jetzt sei es nicht einmal mehr die Hälfte. Die Sea Eye 4 sei zuletzt das einzige Schiff vor der libyschen Küste gewesen.

Die Gefahr, dass Menschen sterben, steigt dadurch. Doch die Behörden erschwerten die Zulassung der Schiffe immer weiter, ständig gebe es Kontrollen und neue Anforderungen, berichten Retter. Dadurch sind auch die Kosten der zivilen Seenotrettung gestiegen, sagt Pahlke.

Italienischkurse, basteln und Sport an Bord

Doch gleichzeitig habe sich die Arbeit der Aktivisten auch verbessert: „Mich beeindruckt die Professionalität, die die zivile Seenotrettung inzwischen etabliert hat“, sagt Pahlke. Die medizinische Versorgung sei deutlich besser als noch vor ein paar Jahren, die Abläufe eingespielter, die Küche deutlich besser.

Auch Angebote an Bord für Geflüchtete – wie Italienischkurse, Sportangebote oder Bastelaktivitäten – gebe es neu. Seine Aufgabe an Bord beschreibt Pahlke so: „Ich wasche Teller ab, verteile Essen, kümmere mich um die Geretteten, putze an Bord – eben alles, was anfällt.“

Auf dem Mittelmeer treiben viele leere Boote wie dieses.
Auf dem Mittelmeer treiben viele leere Boote wie dieses.

© promo

Eigentlich hat sich Pahlkes Partei gemeinsam mit SPD und FDP vorgenommen, die zivile Seenotrettung überflüssig zu machen: „Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an“, heißt es im Ampel-Koalitionsvertrag auf Seite 113.

Doch davon ist die Realität noch immer weit entfernt. Der Koalitionsvertrag sei kein Lippenbekenntnis, sondern ein Quantensprung, findet Pahlke. Die politische Lage in der EU sei aber schwierig. „Es müssen die europäischen Länder vorangehen, denen Menschenrechte an den europäischen Außengrenzen etwas bedeuten.“ Der Frage, ob die Bundesregierung Schiffe ins Mittelmeer schicken sollte, weicht er aus.

„Die jetzige libysche Such- und Rettungszone sehe ich kritisch“

Dafür kritisiert der 30-Jährige die libysche Küstenwache, die sich nachweislich immer wieder an illegalen Pushbacks beteiligt. „Die europäische Ausbildung der sogenannten libyschen Küstenwache, die teils aus Milizen besteht und die Geflüchteten in Folterlager bringt, sollte aus dem europäischen Mandat gestrichen werden. So wie die neue Bundesregierung sie auch aus dem deutschen Irini-Mandat gestrichen hat.“

Dass die EU und auch das deutsche Außenministerium die libysche Such- und Rettungszone anerkennen, rügt er: „Die libysche Such- und Rettungszone in ihrer jetzigen Form sehe ich kritisch und stelle sie deswegen in Frage. Diese Zone muss mindestens überprüft werden.“

Denn längst haben sich die Gefahren und Abwehrmechanismen der Mittelmeer-Route unter Geflüchteten und Schleppern herumgesprochen. Die Folge: Neue Fluchtrouten werden verstärkt genutzt, vor allem von Westafrika auf die Kanaren. Eine Route über den Atlantik, die als noch viel gefährlicher gilt. Dennoch haben sich UN-Angaben zufolge bereits im ersten Halbjahr rund 5000 Menschen auf diese Flucht begeben.

Für die Geflüchteten an Bord der Sea Eye 4 gab es schließlich eine Lösung. Nach elf Tagen Irrfahrt auf dem Mittelmeer fand das Schiff einen sicheren Hafen. Wie Sea Eye twitterte, durfte das Schiff mit den 87 Geretteten in den Hafen von Pozzallo im Süden Siziliens einfahren.

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