zum Hauptinhalt
Erste Schritte in die Freiheit. Flüchtlinge werden am Münchner Hauptbahnhof von einem Helfer begleitet.

© Michael Dalder/Reuters

Der Weg der Flüchtlinge: Der „Welcome“-Stafettenstab

Die aus Ungarn ankommenden Flüchtlinge werden überall mit Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft in Deutschland begrüßt. Nur wenige Misstöne mischen sich in die Willkommens-Atmosphäre.

„Die Leute klatschten, weinten, strahlten“, schildert Klaus Schwertner, Geschäftsführer der österreichischen Caritas, seine Eindrücke von der Ankunft der ersten Flüchtlinge am Westbahnhof von Wien am Samstagmorgen. Die Szene wiederholte sich im Stundentakt bis tief in die Nacht: Entgegen den Ankündigungen hatte Ungarn doch die Flüchtlinge, die Richtung Westen wollten, mit Zügen an die Grenzstadt Hegyeshalom gebracht, von wo sie noch zehn Kilometer zu Fuß zur österreichischen Grenze gehen mussten. „Liberty“ (Freiheit) war auch am Sonntag das von den Flüchtlingen am häufigsten gebrauchte Wort, wenn sie sich bei den Österreichern für die freundliche Aufnahme bedanken wollten. Insgesamt kamen am Samstag nach letzten Schätzungen 13 000 Asylbewerber nach Österreich, die fast alle nach Deutschland weiterreisen wollten. Den meisten gelang dies auch sofort.

Wien: Mehr Spenden von der Bevölkerung als die Helfer verkraften können

Die Nacht zum Sonntag hatten nur noch 700 der am spätesten angekommenen Flüchtlinge am Bahnhof verbracht, die meisten auf Feldbetten und in Räumen der Bahn. Die Versorgung mit Essen, warmer Kleidung und Hygieneartikeln bis hin zu Aufladestationen für die Handys der Flüchtlinge klappt inzwischen sehr gut. Die Bereitschaft der Wiener, freiwillig zu helfen, ist so groß, dass Caritas und Rotes Kreuz auch am Sonntag keine weiteren Spenden annehmen wollten.

Auch die Gesundheitsversorgung ist vorbildlich: In Nickelsdorf, einem kleinen österreichischen Ort direkt an der ungarischen Grenze, wurden allein am Samstag 16 Personen, überwiegend Frauen und Kinder, in Krankenhäuser der Umgebung gebracht. In Wien wurden nochmals fünf Personen in Krankenhäuser gebracht.

Hunderte Flüchtlinge kommen inzwischen auch über andere Grenzübergänge. Am Sonntag gingen die Zahlen langsam zurück. Die Informationen der ungarischen Behörden waren aber so lückenhaft und widersprüchlich, dass man sich in Nickelsdorf und Wien auf eine weitere Welle von Flüchtlingen einrichtete. Laut Medienberichten sollen allein am Sonntagvormittag 800 Migranten die Grenze von Serbien nach Ungarn überschritten haben – trotz des ungarischen Grenzzauns.

Der Eindruck von der überwältigenden Hilfsbereitschaft und herzlichen Willkommenskultur in Österreich wurde am Samstag kurzzeitig durch angetrunkene Fußballfans getrübt: Bei der Begegnung mit den Flüchtlingen am Westbahnhof waren herablassende und feindliche Äußerungen zu hören.

Eine repräsentative Erhebung im Auftrag der Tageszeitung „Kurier“ ergab, dass eine große Mehrheit der Österreicher den Flüchtlingen helfen will: 65 Prozent der Befragten halten Geld- oder Sachspenden für richtig, 37 Prozent finden hingegen, dass es „schon ausreichende Einrichtungen für Flüchtlinge“ gibt. In den Kommentaren der Medien ist Bundeskanzlerin Angela Merkel viel mehr noch als bisher der Superstar. Ihre Politik wird fast einhellig gelobt, auch wenn Fragen nach ihrer grundsätzlichen Ausrichtung zum europäischen Recht nicht ausbleiben.

Hauptgrund für die relative Zufriedenheit der Österreicher über den Umgang mit den Flüchtlingen ist aber wohl die Tatsache, dass die allermeisten nach Deutschland und nicht im Lande bleiben wollen. Am Samstag waren es nur 20. Alle anderen rufen oft schon am Wiener Bahnhof mit glücklichem Gesichtsausdruck „Almanya!“ oder „Germany!“.

München: 700 Helfer empfangen die Ankömmlinge

In München steigen sie dann alle aus den Zügen, die in Ungarn gestartet und durch Österreich gefahren sind. Die Helfer eilen in die verschiedenen Notunterkünfte, um die am Bahnhof neu angekommenen und gleich weitergebrachten Flüchtlinge zu betreuen. „Wer kennt das Luisengymnasium?“, ruft ein junger Mann am Hauptbahnhof laut in die Menge vor ihm. Es melden sich einige. „Gut, dann macht euch auf den Weg“, sagt er. „Wer geht zur Messe?“ Wieder heben sich etliche Hände. „Also los geht’s“, meint Stefan Liebl, auf dessen T-Shirt der Schriftzug „Junges Bündnis für Geflüchtete“ steht. So geht das den ganzen Sonntag über, so war es schon am Samstag – an diesem Wochenende, als der Strom der Flüchtlinge nach Europa die bayerische Landeshauptstadt erreichte.

48 Stunden lang, rund um die Uhr, hat die Stadt das zu bewältigen, was als „Ansturm“ bezeichnet wird. Ganz schnell und ohne große Reibungsverluste arbeiten die verschiedenen Institutionen zusammen: Polizei, Bahn, Rettungskräfte, freiwillige Helfer. Am Sonntagmittag lobt Simon Hegewald von der Bundespolizei die „phänomenale Unterstützung durch die Menschen“. Der Helfer-Sprecher Colin Turner seinerseits ist von Polizei und Bahn und deren Organisationsfähigkeit beeindruckt. Denn was in Chaos und unmenschlichen Zuständen hätte enden können, wird zumindest vordergründig fast so etwas wie ein fröhliches Fest. Am Samstag sind 7000 Menschen in München aus den Zügen gestiegen, am Sonntag sind es noch einmal 4000. „Welcome“, willkommen, steht auf Bannern, auch auf Arabisch. 700 Helfer haben sich insgesamt gemeldet, sie begleiten die Asylbewerber zur medizinischen Untersuchung, halten warme Kleidung bereit, warten mit Getränken und Essen auf.

Praktisch alle ankommenden Flüchtlinge sagen, sie kommen aus „Syria“, aus Syrien. Es sind viele junge Männer, aber auch Familien mit Babys und Kleinkindern. Hussein etwa, 19 Jahre alt, stammt aus Aleppo in Syrien. Er trägt eine Jacke und kurze Hosen, in der Hand hält er eine Tüte mit ein paar Äpfeln. „Ich war drei Tage in Ungarn“, erzählt er, „dort haben sie mich ins Gefängnis gesteckt.“ Er sei gefoltert und mit Pfefferspray besprüht worden. Sieben Leute gehören zu seiner Familie, doch wo sind sie? Er zuckt die Schultern und meint: „Vielleicht irgendwo in Deutschland.“

Die Flüchtlinge werden zuerst zur Notaufnahme auf dem nördlichen Bahnhofsplatz geleitet, dort hat das „Medizinische Katastrophenhilfswerk“ vier große Zelte aufgestellt. Ein Teil der Menschen wird dann in München verteilt, ein anderer mit gecharterten Busse in andere Orte in Bayern gebracht. Manche werden per Zug in andere Bundesländer weitergeleitet. Wer ankommt und wer wohin kommt, ist in diesen hektischen Stunden kaum zu überschauen. Auch Maria Els, Vizepräsidentin des Regierungsbezirks Oberbayern, sowie Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) haben da ihre Probleme. Auf einer rasch anberaumten Pressekonferenz spricht Els davon, dass am Samstag 3300 der knapp 7000 Flüchtlinge in andere Bundesländer „weitergeleitet“ worden seien, etwa nach Dortmund, Braunschweig und ins ostdeutsche Saalfeld. Baden-Württemberg habe zudem Flüchtlinge mit 15 Bussen direkt an der österreichischen Grenze abgeholt. OB Reiter ist stolz auf seine hilfsbereite Stadt und die „sensationelle Zusammenarbeit“. Doch er fordert immer stärker die „Solidarität aller Bundesländer“.

Dortmund: Von hier aus werden die Flüchtlinge auf ganz Nordrhein-Westfalen verteilt

In Dortmund organisierten antirassistische Gruppen die Hilfe für aus München ankommende Flüchtlinge. Am frühen Abend wurde bekannt, dass Dortmund die Verteilstelle für Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen sein soll. Mit bis zu 1500 Flüchtlingen wurde gerechnet. Die Flüchtlingsunterstützer riefen dazu auf, ab 23 Uhr Spenden zum Bahnhof zu bringen. Und es kamen große Mengen an. Im Laufe der Nacht wurden die Spenden von der Feuerwehr abtransportiert und im Kulturzentrum „Dietrich-Keuning-Haus“ gelagert. Dort sollten die Flüchtlinge ankommen und mit den Sachspenden versorgt werden.

Wie nicht anders zu erwarten reagierte auch die Dortmunder Neonaziszene auf die geplante Ankunft des Flüchtlingszuges. Der Zug mit Flüchtlingen war für 3 Uhr am Morgen angekündigt, und zu diesem Zeitpunkt wollte die Neonazi-Partei „Die Rechte“ auch vor dem Hauptbahnhof gegen Asylsuchende demonstrieren. Tatsächlich erschienen in der Nacht etwa 30 Nazis. Schon bei ihrer Ankunft griffen die Rechten Nazigegner an, zündeten Pyrotechnik und warfen mit Feuerwerkskörpern. Aber auch Linke gingen gewalttätig gegen die Neonazis vor. Auf beiden Seiten gab es Festnahmen. Zeitgleich zur Kundgebung der Rechten gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft im Dortmunder Stadtteil Eving. Gegen 2 Uhr morgens zerstörten bisher unbekannte Täter Fensterscheiben der ehemaligen Schule und versuchten, einen Brand zu legen.

Die für die Nacht angekündigten Flüchtlingszüge erreichten Dortmund erst am Sonntagmorgen. Der erste Zug wurde mit Klatschen und „Welcome“-Rufen begrüßt. Von Dortmund aus werden nun die Flüchtlinge auf ganz Nordrhein-Westfalen verteilt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false