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Ort des Gedenkens an die Opfer: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem im Jahr 2017.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Staatsoberhäupter und der Nationalsozialismus: 75 Jahre Reden und Schweigen

Bundespräsident Steinmeier gedenkt Ende des Monates der Befreiung von Auschwitz. Wie seine Vorgänger mit der NS-Geschichte umgingen, lässt er gerade erforschen.

Von Hans Monath

Nicht jedes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik hat sich dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte schonungslos offen gestellt, aber Frank-Walter Steinmeier will genau das tun. Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz Ende Januar wird der Bundespräsident mit seinem israelischen Amtskollegen Reuven Rivlin in Israel, Polen und Deutschland an Gedenkveranstaltungen teilnehmen.

Man tritt Steinmeier wohl nicht zu nahe, wenn man sagt, dass die Reden, die er in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel und bei der Gedenkzeremonie des Bundestages zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus halten wird, auch einen so erfahrenen Politiker wie ihn auf eine schwere Probe stellen werden. Jedes Wort muss dann genau abgewogen sein, jede Geste zählt. Es ist ein Moment, der keine Fehler verzeiht.
Dass manche seiner Vorgänger anders umgegangen sind mit der Last der Vergangenheit als er selbst, ist Steinmeier sehr bewusst. Wie unterschiedlich sich sie und ihre Mitarbeiter zum Nationalsozialismus verhalten haben, das will er nun genau dokumentieren lassen. Mitte Dezember schrieb das Präsidialamt deshalb ein Forschungsprojekt aus.

Darin soll es auch um die „Untersuchung von möglichen personellen und ideellen Kontinuitäten und Brüchen zwischen der Zeit vor 1945 und nach 1949“ gehen – so die Ausschreibung. Das Bundespräsidialamt ist spät dran mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, viele Bundesministerien sind längst erforscht.

Es war der damalige Außenminister Joschka Fischer, der 2005 die später unter dem Titel „Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit“ bekannt gewordene Untersuchung über die NS-Geschichte seines Ministeriums in Auftrag gegeben hatte. Das Werk, an dem Fachhistoriker später viele Fehleinschätzungen monierten, war eine Art Avantgardeprojekt.

Es rüttelte die Öffentlichkeit auf und gab den Anstoß für die Aufarbeitung der Historie auch vieler anderer oberster Bundesbehörden. Steinmeier hatte das Ministeramt von Fischer übernommen, doch die Untersuchung brauchte ihre Zeit. Erst Steinmeiers Nachfolger Guido Westerwelle konnte das Geschichtswerk im Herbst 2011 vorstellen und würdigen.

Wie sehr Steinmeier die Aufarbeitung von NS-Unrecht als eigenen Auftrag begreift, zeigt sein Umgang mit der Dahlemer Dienstvilla der Bundespräsidenten. Die hatte bis 1933 jüdische Eigentümer, die sie unter dem Druck drohender Verfolgung verkaufen mussten. Die Geschichte wurde sorgfältig aufgearbeitet, und Steinmeier sorgte dafür, dass seit Juni 2018 eine Gedenktafel vor dem Haus in der Pücklerstraße an Hugo und Maria Heymann erinnert.

Schon vor Weizsäcker hatte Scheel von Befreiung gesprochen

Eine der folgenreichsten Reden von Bundespräsidenten zum NS-Thema ist mit dem Namen Richard von Weizsäckers verbunden. Er verschob in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 die Interpretation der Kapitulation vom „Tag der Niederlage“ hin zum „Tag der Befreiung“, was im Ausland ein großes Echo fand und in Deutschland von Konservativen kritisiert wurde.

Doch von Weizsäcker war nicht das erste deutsche Staatsoberhaupt, das sich intensiv mit der NS-Geschichte auseinandersetzte. Sein Vor-Vorgänger Walter Scheel (im Amt von 1974 bis 1979) war als Interpret des Liedes „Hoch auf dem gelben Wagen“ populär geworden – damals war er noch Außenminister. Weniger bekannt ist, dass er den Gedanken, wonach der 8. Mai 1945 nicht nur Niederlage, sondern Befreiung gewesen sei, schon zehn Jahre vor Weizsäckers Rede von 1985 ausgesprochen hatte.

Knut Bergmann, Kenner der Geschichte des Präsidialamtes, hat eine Erklärung, warum der gleiche Gedanke einmal versandete, später aber Unruhe provozierte. Scheel habe seine Rede nicht in einer Feierstunde des Bundestags, sondern vor dem Diplomatischen Corps in der Bonner Schlosskirche gehalten, sagt der Autor des Buches „Mit Wein Staat machen. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Die gedankliche Nähe beider Ausführungen hält er für wenig überraschend: „An beiden Reden hatte federführend derselbe Redenschreiber mitgewirkt.“

Womöglich war die deutsche Gesellschaft 1975 auch noch nicht bereit, einen Gedanken aufzunehmen, der sich erst durchsetzen konnte, als eine jüngere, gegenüber der eigenen Geschichte kritischere Generation schon Schlüsselstellen in Wissenschaft und Medien erobert hatte. Dass Weizsäcker in jungen Jahren als Verteidiger seinem wegen Kriegsverbrechen verurteilten Vater Ernst beigestanden hatte, tat seiner Überzeugungskraft 1985 jedenfalls keinen Abbruch.

Der Potsdamer Historiker Frank Bösch sieht den Weizsäcker-Nimbus nach 35 Jahren mit kritischer Distanz: „Wer heute seine Rede liest, ist verwundert, wie sie eine so große Wirkung entfalten konnte. Denn in Bezug auf den 8. Mai 1945 verharrt sie in der Ambivalenz“, meint er. Die politische Linke in Deutschland und natürlich auch die DDR hätten den 8. Mai schon lange vor Weizsäcker als Tag der Befreiung gedeutet, sagt der Ko-Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung. Das Besondere an Weizsäckers Rede sei deshalb, „dass ein so wichtiger CDU-Politiker diese Deutung aufbrachte und sie damit in die Mitte der Gesellschaft holte“.

Wer immer die Akten des Präsidialamtes aufarbeiten will, wird auch die hoch umstrittene Mitgliedschaft von Karl Carstens (1979 bis 1984) in der NSDAP bewerten müssen. Unter massivem Druck hatte der Jurastudent 1937 sich um Aufnahme in die Partei beworben, aber bei der Einreichung von Unterlagen auf Zeit gespielt. Erst nach Ausbruch des Krieges akzeptierte ihn die NSDAP als Mitglied. Nach dem damaligen Wehrgesetz aber konnte ein Soldat kein aktives Parteimitglied sein.

Heuss führte Feldzüge gegen das Vergessen

Auch Carstens’ Vor-Vorgänger Heinrich Lübke (1959 bis 1969) sah sich wegen angeblicher Verstrickung in die Mordmaschinerie des NS massiven öffentlichen Vorwürfen ausgesetzt. Er legte sein Amt deshalb wenige Monate vor dem offiziellen Ausscheiden nieder. Vorgeworfen wurde ihm, er sei in der NS-Zeit als Ingenieur am Bau von KZ-Baracken beteiligt gewesen, was seine Unterschrift unter einem Lagerplan beweisen sollte. Erst später stellte sich heraus, dass der DDR-Staatssicherheitsdienst auch manipuliert hatte und der Plan nicht ein KZ, sondern ein beliebiges Barackenlager darstellte. Womöglich auch deswegen ist Lübke heute den meisten Deutschen nur noch als hochnotpeinlicher Redner ein Begriff. Sein Biograf Rudolf Morsey nannte ihn den „vergessenen Präsidenten“.

Keineswegs vergessen ist dagegen der erste Bundespräsident – und der hatte sich intensiver mit dem NS auseinandergesetzt als viele seiner Nachfolger. Heuss hatte gemeinsam als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, war als linksliberaler Politiker der Weimarer Zeit den Nationalsozialisten jedoch zutiefst suspekt. Nach 1945 brachte er „eine Biographie mit, die seine Person als eine bewusste Abkehr von der Zeit des Nationalsozialismus erscheinen ließ“, sagt der Historiker Frieder Günther, Autor des Buches „Heuss auf Reisen. Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten.“. Er bescheinigt dem Staatsoberhaupt, er habe „durch die Art seiner Amtsführung eine Abkehr vom Nationalsozialismus nach außen tragen“ wollen.

Früh setzte der erste Präsident Akzente für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, führte „Feldzüge gegen das Vergessen“. Schon 1952 besuchte er das frühere KZ Bergen-Belsen und sprach in seiner Rede über die deutschen Massenmorde. „Das war auch insofern bemerkenswert, weil deutsche Kanzler erst viel später, in den 70er Jahren, die NS-Vergangenheit offener reflektierten“, urteilt Zeithistoriker Bösch. Auch Steinmeier würdigte im vergangenen Jahr die Heuss-Rede von 1952.

Was das Präsidialamt betraf, war Heuss nach Meinung von Frieder Günther durchaus bereit, mit früheren NSDAP-Mitgliedern zusammenzuarbeiten. Glaubt man dem Historiker, ging Heuss recht hemdsärmelig und freimütig mit dem Vorleben seiner Zeitgenossen um und unterschätzte wohl auch die Prägekraft des NS für die deutsche Gesellschaft: Er glaubte demnach selbst einschätzen zu können, inwiefern Einzelne im NS schuldig geworden waren. Der Bundespräsident setzte sich auch immer wieder für Ex-Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher ein, wenn er den Eindruck hätte, sie seien „anständig geblieben“. Insofern könnten sich im Präsidialamt bei der nun angestoßenen Untersuchung „durchaus einzelne NS-Kontinuitäten auftun“, glaubt Günther.

Viel Zeit gibt das Präsidialamt den Forschern nicht: Schon im März 2022 sollen die Ergebnisse präsentiert werden – ein für ein solches Vorhaben knapper Rahmen, wie etliche Historiker meinen.

Wenn Rivlin und Steinmeier am 27. Januar bei der Gedenkzeremonie im Bundestag sprechen, werden sie rechts vom Rednerpult Abgeordnete der AfD-Fraktion sitzen sehen, von denen viele nicht die Hand rühren, wenn Redner nicht nur die NS-Verbrechen, sondern Ausgrenzung, Hetze und Fremdenhass verurteilen. An diesem Tag wird die halbe Welt zusehen, wie sie sich verhalten. Und womöglich alle Deutschen daran messen.

Frühere Bundespräsidenten mussten damit rechnen, dass viele selbst in die NS-Geschichte verstrickte Deutsche empört reagierten, wenn sie über diese Zeit urteilten. Steinmeiers Problem ist heute ein anderes. Aber womöglich ist es nicht weniger herausfordernd.

Der Text erschien zuerst in der Beilage "Agenda" des Tagesspiegels.

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