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Enrico Letta, Chef des Partito democratico, der für die Bündnispolitik von Mitte-Links - und den Wahlausgang am 25. September - entscheidend sein wird.

© Remo Casilli/Reuters

Italien nach der Regierungskrise: "Die Verfassung ist in Gefahr"

Nach der Regierungskrise: Draghi regiert weiter, die Parteien laufen sich für die Wahl im September warm. Die Rechte ist geschlossen, die Gegenseite nicht.

Dass Mario Draghi so entschlossen sein würde zu gehen – seine intern geäußerten Worte, er habe “den Kanal voll”, konnten es zumindest an klarer Entschlossenheit mit dem berühmten “Whatever it takes” der Eurorettung aufnehmen – erwischte manchen kalt. Die "Fünf-Sterne-Bewegung" hatte den Anstoß zur Krise gegeben, wohl ohne Draghi wirklich stürzen zu wollen. Das rechte Lager beschleunigte ihn, indem es seinerseits Draghi das Vertrauen verweigerte. Von den Großen der Zehn-Parteien-Koalition wollte am Ende nur der sozialdemokratische Partito democratico (PD) das Bündnis unter dem Ex-Bankier auf jeden Fall halten.

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Doch inzwischen sortiert sich zwangsläufig auch der PD im Blick auf die Wahl am 25. September neu, für die gerade einmal acht Wochen Wahlkampf möglich sind, und dies mitten in einem höllenheißen Sommer. Die Sozialdemokraten schwenken die Flagge einer "Agenda Draghi", wobei im Augenblick noch nicht ganz klar ist, ob sich das auf die politischen Inhalte bezieht, die der scheidende Premier vergangene Woche vor der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, ausbreitete.

Klar festgelegt hat sich PD-Chef Enrico Letta bereits darauf, was das für mögliche Koalitionen bedeutet, zu denen seine Partei bereit ist: Nur wer am vergangenen Mittwoch in der Vertrauensabstimmung im Senat für Draghi stimmte, soll mit dabei sein.Was heißt: Mit den Fünf Sternen will seine Partei nicht. Der Bruch mit dem M5S sei "irreversibel", so Letta.

Sozialdemokraten gehen auf alle zu - nur nicht auf die "Sterne"

Diese Festlegung – wenn sie denn hält - könnte den ohnedies wahrscheinlichen Sieg des gegnerischen Lagers besiegeln, das einst Mitte-Rechts hieß, inzwischen aber selbst nach Meinung eines langjährigen Mitglieds, des Christdemokraten Clemente Mastella, nur noch rechts ist. Mit Mitte und Mäßigung dürfte es vollends vorbei sein, wenn darin Matteo Salvinis rechtsradikale Lega und als womöglich noch stärkere Fraktion Georgia Melonis postfaschistisch-faschistische "Fratelli d’Italia" (Brüder Italiens) den Ton angeben.

Im Unterschied zur eher linken Hälfte des politischen Spektrums tritt die Rechte nämlich geeint an. Der greise Silvio Berlusconi scheint sich sogar mit einer Nebenrolle seiner persönlichen Partei "Forza Italia" abgefunden zu haben. Außerdem haben die Partner:innen dem demnächst 86-Jährigen versprochen, er dürfe, obwohl vorbestraft, im Falle eines gemeinsamen Wahlsiegs Präsident des Senats werden.

Nach einem Sieg dieser radikalisierten Rechten sieht es schon länger aus: Aktuell kämen Meloni und die Brüder mit Salvinis Lega und Forza Italia auf 45-48 Prozent. Das würde nach dem Wahlgesetz "Rosatellum", das seit 2017 in Kraft ist, für eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern reichen. Da das Rosatellum Koalitionen geradezu erzwingt, wird der Ausschluss der Fünf Sterne die Alternative zu einer weit rechten Regierung noch weiter schwächen.

Die Sterne schafften es bei der letzten Wahl 2018 nur durch einen Erdrutscherfolg im Alleingang und konnten damals den Regierungschef stellen. Inzwischen ist die Bewegung im freien Fall in der Zustimmung und wurde vor vier Wochen durch eine Spaltung weiter geschwächt:

Mitgründer und Außenminister Luigi Di Maio verließ die Partei zusammen mit etwa einem Viertel der Abgeordneten, weil er die Regierung unter dem "Techniker", dem Nichtpolitiker Draghi erhalten wollte und die Forderungen von M5S-Chef Giuseppe Conte an dessen Adresse deshalb nicht mittrug.

Die Festlegung der nunmehr stärksten Kraft im nichtrechten Lager, des PD, ist vor allem eine Richtungsentscheidung gegen die inzwischen klar links positionierten "Fünf Sterne", die mit Aussagen zum Mindesteinkommen und zum ökologischen Umbau in die Wahl ziehen. Während Parteichef Letta dem M5S kategorisch die Tür weist – der vor mehr als vier Jahren vor allem von enttäuschten PD-Wähler:innen gewählt wurde – öffnet er sich nach weiter rechts, etwa für die Kleinpartei "Azione" des Ex-Sozialdemokraten Carlo Calenda, der seinerseits gerade langjährige Getreue Berlusconis mit ins Boot holt, so drei Ex-Minister:innen von Forza Italia, die dem Alten gerade erst den Rücken gekehrt haben.

Wird eine rechtsextreme Regierung 100 Jahre Mussolini feiern?

Selbst Lettas persönlicher alter Feind Matteo Renzi soll mit dabei sein. Der hat zwar keinen Draghi gestürzt, aber mehrere andere, darunter Letta selbst. 2014 fegte er ihn aus dem Amt, um selbst Premier zu werden.

Letztes Jahr musste Giuseppe Conte nach Renzis Intrigen den Palazzo Chigi verlassen, den Sitz des Ministerpräsidenten. Renzi, der mittlerweile seine Zeit zwischen dem Parlament und seinen saudischen und katarischen Geldgebern teilt, war selbst einmal PD-Vorsitzender und steht mit seiner Abspaltung “Italia viva” für derzeit gerade einmal 2,5 Prozent.

Es gehe inzwischen um viel mehr als nur die nächste Regierung, schrieb am Montag der Philosoph Paolo Flores d’Arcais in einem verzweifelten Editorial für sein Medium “Micromega”. Es gehe darum, ob Italiens Verfassung die nächste Wahl überlebe, die aus dem Geist des Antifaschismus geboren sei und Italien seit 1948 stets vor dem Schlimmsten bewahrt habe.

Mit dieser Wahl könne die extreme Rechte nicht nur die Regierungs-, sondern eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen, so Flores d’Arcais: "Das ekelhafte Wahlgesetz verzeiht nichts", schreibt er im Blick auf die Zersplitterung links: Wenn nämlich "die Nicht-Rechten sich nicht Wahlkreis für Wahlkreis auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, werden die Ex-Neo-Philo-Parafaschisten (und Kleptomanen) alles abräumen". Ganz abgesehen davon, dass die hundert Jahre von Benito Mussolinis “Marsch auf Rom” im Oktober 1922, der Beginn der faschistischen Diktatur, dann im Herbst von einer Regierung begangen – gefeiert? - werden könnten, die ihre Wurzeln eben dort habe.

Wenn denn nicht im rechten Lager ganz neue Bruder- beziehungsweise Hahnenkämpfe ausbrechen. Mehrere Medien kolportieren, dass Berlusconi und Salvini entschlossen seien, im Falle eines Wahlsiegs gegen die selbstgemachten Regeln Georgia Meloni das Premiersamt streitig zu machen. Meloni hat inzwischen angekündigt, dass sie bereit wäre, an dieser Frage das Bündnis platzen zu lassen.  

Den Zugriff aufs Ministerpräsidentenamt hatte bisher immer, wessen Formation im Bündnis die meisten Stimmen hatte. Das dürften diesmal Meloni und ihre "Brüder" sein.  

Zwei Männer wollen eine Frau verhindern

Angeblich denken die beiden Männer daran, die Regeln zu ändern, um die Sensation zu verhindern, die dieser Tage der Satireblog "spinoza.it" in bitteren Sarkasmus packte: "Im September könnten wir in einem Aufwasch die erste Frau als Ministerpräsidentin haben und die erste schwarze." Schwarz ist, auf die schwarzen Hemden von Mussolinis Faschisten bezogen, Italiens Sigle für den Faschismus.

Ungeachtet der Untergangsszenarien, die für die Zeit nach “Supermario” gemalt wurden, gehen die Geschäfte im politischen Rom unterdessen weiter wie bisher. Draghi, der auf Bitten von Staatspräsident Sergio Mattarella geblieben ist, um das Land bis zur Wahl nicht führungslos zu lassen, ließ sich am Dienstag zum ersten Mal wieder hören.

Er kündigte einen "schwierigen Herbst" an und besprach mit dem Kabinett jenen Hilfsplan, den er vor zwei Wochen mit der Vertrauensfrage im Parlament verbunden hatte. Anstelle der 12 bis 13 Milliarden Euro sollen jetzt 14,3 Milliarden an Unternehmen und Haushalte fließen, um die gestiegenen Kosten für Energie und Lebensmittel abzufedern.

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