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Direktwahl: Stühle rücken

Die geringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl gibt Politikern zu denken. Auch dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff (CDU), der eine Kanzler-Direktwahl will. Welchen Sinn hat das?

Auch Christian Wulff macht sich so seine Gedanken. „Eine Direktwahl der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten finde ich sehr nachdenkenswert“, forderte Niedersachsens Ministerpräsident am Rande einer Buchvorstellung. Eigentlich ging es um das Thema Nachwuchs in der Politik, mit dem sich das Buch „Angepasst und ausgebrannt“ des Publizisten Thomas Leif beschäftigt. Für Wulff eine Gelegenheit, auch auf die insgesamt wenig verbreitete Partizipation an der Demokratie hinzuweisen und auf eine höhere Wahlbeteiligung zu drängen.

Sein Vorschlag ist es, sämtliche Regierungschefs, also Kanzler und Ministerpräsidenten, künftig direkt vom Volk wählen zu lassen. „Das hätte den Reiz, dass Regierungschefs unmittelbar vor dem Volk verantwortlich sind“, sagte der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende, selbst einer der beliebtesten Politiker des Landes. Bisher sei es doch so, dass sich Regierungschefs eher der Mehrheitsfraktion eines Parlaments verantwortlich fühlten, von denen sie schließlich auch gewählt werden. Damit würde man die Möglichkeit schaffen, dass sich der Regierungschef auch mal unterschiedliche Mehrheiten im Parlament suchen könnte. Ungewöhnlich detailliert ging Wulff auf dieses Thema ein, das er, wie er in kleinem Kreis einräumt, bisher „nur in Büchern“ unterbreitet habe, nicht aber in den Parteigremien. „Außerdem sind Theorie und Praxis ja zwei unterschiedliche Dinge.“ Gut also, dass wir mal darüber geredet haben? Oder noch ein hilfloser Versuch, nach der geringen Beteiligung an der Europawahl die Bürger wieder an die Urnen zu locken, wie vor einigen Tagen der ähnlich ernst gemeinte Vorschlag des SPD-Abgeordneten Jörn Thiessen, bei Androhungen eines Strafgeldes die Wahlpflicht einzuführen?

In der CDU hält man sich zu den Vorschlägen jedenfalls bedeckt und spricht vornehm von „Gedankenspielen“. Dieter Wiefelspütz, der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, ist da konkreter: Er nennt die Idee einen „Gaga-Vorschlag“ und spricht von einem „Ablenkungsmanöver“, um „die Blockade der Union beim Thema Volksentscheide auf Bundesebene“ zu verschleiern. „Es wäre doch viel sinnvoller, wir ließen die Bürger bei Sachthemen mitentscheiden, als unser ganzes staatspolitisches Mobiliar zu verrücken“, sagt Wiefelspütz – und fragt sich, warum Wulff am Verfassungskonstrukt der Bundesrepublik herummäkele. „Wir feiern gerade das 60-jährige Jubiläum eines überaus erfolgreichen Staatswesens. Da kann man ruhig mal Traditionen pflegen.“ Eine Präsidialverfassung nach US- oder französischem Vorbild halte er nicht für erstrebenswert.

Es gibt aber auch Stimmen, die Wulffs Vorschlag für bedenkenswert erachten. Gabriele Pauli, als Spitzenkandidatin der „Freien Wähler“ zur Europawahl kürzlich am mangelnden Zuspruch der Wähler gescheitert, wirbt für den Vorschlag. „Ministerpräsidenten und auch der Bundeskanzler oder Kanzlerin sollten direkt gewählt werden“, forderte sie gleich mehrfach. Auch der Staatsrechtler und Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim ist ein Freund der Direktwahl – zumindest auf Ebene der Ministerpräsidenten. „Würde der Ministerpräsident direkt gewählt, würden nicht nur die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Amtsträger wiederhergestellt, sondern insgesamt mehr Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe der Politik ermöglicht; auch das freie Mandat würde automatisch wieder Effektivität erlangen, weil die Parlamentarier sich persönlich profilieren und nicht mehr geschlossen die Regierung stützen müssten“, fordert Arnim in seinem Buch „Das System“.

„Haben wir schon Sommerloch?“, fragt dagegen Jens Borchert. Der Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main hält überhaupt nichts von Wulffs Vorschlag: „Da will wohl jemand ein kleiner Fürst auf Zeit werden“, sagt er und verweist auf „desaströse“ Erfahrungen mit der Direktwahl des Ministerpräsidenten in Israel.

Dort wurde die Wahl des Regierungschefs – 1992 von der Knesset eingeführt – nach wenigen Jahren wieder abgeschafft. „Das verträgt sich nicht mit der parlamentarischen Demokratie, weil die Direktwahl das Parlament entmachtet.“ Stattdessen begünstige sie einen populistischen Bonapartismus der Regierungschefs. Zudem könne es zu einem Nebeneinander zwischen Exekutive und der Parlamentsmehrheit kommen.

Grundsätzlich werde die Regierbarkeit aber eher erschwert, weil die Parteien geschwächt werden. Borchert verweist noch auf einen anderen Aspekt: „Die Länder, in denen wir eher präsidiale Systeme haben, fallen gerade nicht durch eine höhere Wahlbeteiligung auf – etwa die USA.“ Wenn man die Bürger bei Wahlen tatsächlich mehr für Politik interessieren wolle, dann solle man eher das Wahlrecht ändern, sagt Borchert. „Auf kommunaler Ebene haben wir mit dem Kumulieren und Panaschieren, also der personalisierten Wahl und Gewichtung einzelner Kandidaten, gute Erfahrungen gemacht.“ Warum solle man nicht künftig auch auf Bundesebene einzelne Parteikandidaten herausstreichen, andere dagegen gleich mit mehreren Stimmen stärken können? Auf diese Weise seien bereits viele talentierte Kandidaten von hinteren Plätzen aus gewählt worden.

„Meine Frau will in unserer Wohnung immer die Möbel verschieben, aus Lust und Laune“, sagt Wiefelspütz – „Frauen sind so“. Und hat eine Bitte: „Von solchen Launen sollten wir bei unserer Verfassung lieber absehen.“

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