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Politik: Ein Staat zum Selbermachen

Mehr als ein Jahr ist Belgien ohne Regierung Nun suchen auch Bürgerinitiativen nach Lösungen

Berlin - Mit einem zweifelhaften Rekord macht Belgien von sich reden: Seit mehr als einem Jahr sucht man in Brüssel schon nach einer Regierung. Im Moment versucht der designierte Ministerpräsident Elio di Rupo, Ordnung in einem Gewirr aus acht Parteien zu finden. Viele Belgier haben indes die Hoffnung in den offiziellen Weg verloren.

Seit den Parlamentswahlen im Juni 2010 ist die Regierungsbildung immer wieder am tief sitzenden Konflikt zwischen dem französischsprachigen Wallonien und dem flämischsprachigen Flandern gescheitert. Streitpunkt ist außerdem die Region um die Hauptstadt Brüssel, die keinem der beiden Landesteile zugehört und zweisprachig ist.

Einige Belgier suchen nach alternativen Möglichkeiten, um das Land neu aufzustellen und eine Regierung zu finden. Mit großen Visionen, ohne Berufspolitiker und über die Grenzen der klassischen politischen Lager hinweg soll die Krise gelöst werden.

Einer der Visionäre ist David van Reybrouck. Er will es mit nicht weniger als einer neuen Form der Demokratie versuchen. Der 40-jährige Historiker aus Brüssel hat das Projekt „G1000“ ins Leben gerufen. Sein Verein veranstaltet im Herbst einen Bürgerkongress, der nach Auswegen aus der Krise suchen soll. Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen ist ihnen dabei besonders wichtig: „G1000 ist eine reine Bürgerinitiative und wird von Freiwilligen organisiert“, heißt es auf der Internetseite des Projekts. „Wahlen sind ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Demokratie ist mehr als Parteipolitik“, erklärt van Reybrouck. Seine Vision: Bürgerkomitees, die die Regierenden zu Sachfragen beraten. Einem politischen Lager will sich van Reybrouck dabei nicht zuordnen: „Linke kritisieren uns als neoliberales Projekt, Konservative halten uns für Marxisten. Das zeigt doch, dass unsere Initiative alle Lager überspannt.“

Bevor der Kongress stattfindet, sollen die Belgier im Internet diskutieren, welche Fragen bei dem Treffen besprochen werden. Dessen Teilnehmer werden dann zufällig von einer unabhängigen Agentur ausgewählt. „Bis zum Frühjahr erarbeiten wir dann Gesetzesvorschläge für die Regierung“ , sagt David van Reybrouck. Davor bedarf es aber noch einiger Überzeugungsarbeit. Vonseiten der geschäftsführenden Regierung gibt es bisher keine konkreten Zusagen an „G1000“.

Kritik kommt von Ludo Abicht: „Das ist Quatsch!“, sagt der Autor aus Antwerpen. „Die Bürger sind an Parteien interessiert, das zeigen die Wählerstimmen“, erklärt er. Für ihn ist das Problem ein anderes: „Belgien, das sind zwei Kulturen, die wenig miteinander zu tun haben und kaum miteinander sprechen.“ Englisch werde immer mehr die Lingua franca zwischen Norden und Süden Belgiens. Ein Gräuel für den überzeugten Flamen Abicht.

„Spalten statt einen“ ist für Ludo Abicht der Weg aus der Krise. Zusammen mit 23 anderen Flamen will der 75-Jährige eine stärkere Unabhängigkeit der beiden Landesteile erreichen. In der sogenannten „Gravensteen-Gruppe“ trifft er sich regelmäßig mit Journalisten, Künstlern und anderen Intellektuellen. „Wir sind alle keine Politiker!“, betont Abicht.

Regelmäßig veröffentlichen die Gravensteener Manifeste. Ihr Land, das heißt für sie Flandern. Wer darin Nationalismus und Kleinstaaterei entdecken will, den belehrt Ludo Abicht eines Besseren: „Wir verstehen uns alle als links“. Einen Widerspruch sieht er darin nicht. Die Gruppe will ein freiheitlich-soziales, republikanisches Gegengewicht zum konservativen Mief in Flandern bilden. Aber eben auch mehr Unabhängigkeit vom Zentralstaat erreichen: „Die Regionen müssen gestärkt werden. Wir wollen keinen Föderalismus von oben“, beschreibt Abicht. Ähnlich wie in Katalonien, Nordirland oder Québec sollen Flandern und Wallonien weitestgehend unabhängige Länder werden. Eine Teilung des Staats befürchtet er nicht: „Belgien wird nicht verschwinden, aber anders aussehen.“

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