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Zwei, die sich verstehen: Der französische und der deutsche Präsident - hier bei der Feierlichkeit im November 2018.

© REUTERS

Europas Zukunft: Zwei Präsidenten – ein Gedanke

Macron legt vor, Steinmeier legt nach: Gemeinsame Sorge um das demokratische Europa eint die Staatsoberhäupter. Wenigstens etwas. Ein Kommentar.

Zu den Spielregeln der Diplomatie gehört, dass man sie kennt, aber nicht immer über ihre Anwendung spricht. So wird sich auch kaum beweisen lassen, ob es zwischen dem Élysée und dem Bellevue in diesen Tagen einen stillen Kontakt gegeben hat. Einen Kontakt darüber, dass Frank-Walter Steinmeier, das im Vergleich zu seinem französischen Kollegen an Macht eher arme deutsche Staatsoberhaupt, in einer Rede vor der American Academy in Berlin am vergangenen Dienstagabend eine Reihe jener Gedanken von Emmanuel Macron aufnahm, die der am selben Morgen über Zeitungen in den 28 EU-Staaten verbreitet hatte.

Dass dann nochmals einen Tag später die französische Botschafterin in Deutschland, Anne-Marie Descotes, vor einem hochinteressierten Kreis in Berlin als dritte die große Sorge um die Zukunft Europas artikulierte, kann aber kaum als Zufall durchgehen. Viel spricht für eine konzertierte Aktion, geboren aus der Sorge, ja, der Angst, das Jahrhundertprojekt Europa könne mit der Wahl des Europaparlaments Ende Mai zum Opfer von Populisten und Nationalisten werden.

Sigmar Gabriel hat im Tagesspiegel darauf hingewiesen, dass dieser leidenschaftliche und auf den ersten Blick einsame Appell Emmanuel Macrons wenige Wochen nach Unterzeichnung des Aachener Vertrags erfolgte – der ja die Fortschreibung des historischen Élysée-Vertrags sein und den Weg für gemeinsame deutsch-französische Initiativen ebnen soll.

Deutschland bremst, weil es den Ist-Zustand schätzt

Man kann, man darf diesen französischen Alleingang – es ist schon die dritte französische Europa-Initiative in diesem Jahr – kaum anders deuten als ein lautes „Dann eben ohne euch!“ Richtung Deutschland, dessen Kanzlerin vom Drängen Macrons offensichtlich überrollt wurde. Nur so ist auch die erste Reaktion von  Regierungssprecher Steffen Seibert zu interpretieren. Der sagte, es freue die Bundesregierung, dass nun auch Frankreich der Meinung sei, die europäischen Verträge müssten gegebenenfalls geändert werden, wo sie sich als nicht mehr zeitgemäß erwiesen.

Die Tendenz, das Tempo aus der Europa-Debatte zu nehmen, entspricht der klassischen deutschen und vor allem christdemokratischen Position, französische Initiativen auf der langen Strecke auszuhungern, weil der Ist-Zustand sich für Deutschland lange als sehr bequem erwiesen hat.

Dabei steckt hinter Macrons Drängen innen- und europapolitische Sorge. Wenn er in Frankreich nicht erfolgreich ist mit seinem Reformweg, wenn er die Franzosen nicht davon überzeugen kann, dass nur eine Lockerung der sehr starren Wirtschafts- und Sozialpolitik das Land vor dem ökonomischen Abstieg retten kann, könnte der nächste Präsident eine Frau werden. Was sicher ein Fortschritt sein könnte, wenn es sich nicht um Marine Le Pen handeln würde,  die das Land auf einen europa-feindlichen, neutralistischen und populistischen Kurs steuern will.

Nein, Emmanuel Macron hat Angst – nicht nur um seine, sondern auch um Europas Zukunft. Deshalb warnt er geradezu verzweifelt mit dem Blick auf Großbritannien. Den Brexit deutet er als exemplarisch dafür, dass die EU nicht angemessen „auf die Schutzbedürfnisse der Völker angesichts der Umwälzungen in der heutigen Welt“ reagiert habe. Und er klagt die an, die den Briten nicht die Wahrheit gesagt hätten über ihre Zukunft nach dem Brexit. Er prangert die falschen Behauptungen der Nationalisten, die den Rückzug aus Europa, die Abwendung von der EU, als identitätswahrend verklären würden. Nein, so sein Appell: Es ist die europäische Zivilisation, die uns eint.

Vernunft hat in Europa im Moment nicht gerade Konjunktur

Bei Frank-Walter Steinmeier liest sich das kaum anders: Mit dem Verlust der Vernunft steht die Demokratie auf dem Spiel, und die Vernunft hat in Europa im Moment nicht gerade Konjunktur. Er zitiert Thomas Mann aus dem US-amerikanischen Exil, der von der „sentimentalen Rohheit“ sprach, wenn sich hinter der imposanten Maske des Gemüts die Germanentreue verstecke. Und man glaubt auch, Macron über den Brexit reden zu hören, wenn sein Berliner Kollege Deutschland einen Gewinner der Globalisierung nennt, aber beklagt, dass es dennoch im Einzelnen viele Verlierer gebe; wenn er fordert, dass wir „die gesellschaftlichen Umbrüche in humane Bahnen lenken müssen“.

Und dann kommt ein Steinmeier-Satz, von dem man sich wünschte, er möge als Leitmotiv über allen Appellen stehen, Ende Mai bitte zahlreich zur EU-Parlamentswahl zu gehen, und das Wahlrecht nicht nur den Populisten zu überlassen: „Die Verachtung der Vernunft ist ein Warnsignal. Jedes völkische Denken brüstet sich mit der Forderung nach einem ‚Ende des Geredes‘ – das ist die Aufkündigung des Dialogs.“

Dass die Präsidenten beider Länder angesichts des Erstarkens populistischer Bewegungen in Europa eine gemeinsame Sprache finden, und die Diplomaten mit ihnen, ist ein gutes Zeichen. Und vielleicht kommt ja auch von der Bundeskanzlerin noch ein Zeichen der Ermutigung. Bis dahin bauen wir darauf, dass wenigstens die Leitungen zwischen dem Élysée-Palast und dem Schloss Bellevue funktionieren. 

Gerd Appenzeller

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