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Zivilgerichtsverfahren könnten bald auch online stattfinden.

© dpa/Christoph Reichwein

Gesetzesentwurf zur Videoübertragung im Gericht: Gibt es bald Urteilssprüche aus dem Wohnzimmer?

Die Justiz soll digitalisiert werden – das gilt auch für den Gerichtssaal. Doch das hat nicht nur Vorteile.

„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil.“ Wenn diese Worte in einem Gerichtssaal erklingen, müssen sich alle Anwesenden erheben. Die Stimmung ist besonders und auch irgendwie feierlich. Doch mit der Erhabenheit, die mit einem Gerichtsurteil einhergeht, könnte es zumindest in Einzelfällen bald vorbei sein.

Zivilrichter sollen künftig auch von zu Hause aus eine mündliche Verhandlung leiten können – SPD, Grüne und FDP wollen Videoverhandlungen damit stärker im Gerichtsalltag etablieren.

Ein bisheriger Gesetzentwurf sah vor, dass der Vorsitzende Richter die Verhandlung dennoch in jedem Fall vom Gericht aus leiten muss, auch wenn alle anderen Verfahrensbeteiligten per Bild- und Tonübertragung an der mündlichen Verhandlung teilnehmen.

Eine neue Fassung des Entwurfs geht nun deutlich weiter: Sie bietet auch die Option, „von einem anderen Ort als der Gerichtsstelle aus“ zu leiten. Also theoretisch auch von der Couch im Wohnzimmer aus. Auch eine Urteilsverkündung ist per Video möglich. So kann direkt im Anschluss an eine Videoverhandlung verkündet werden.

Handelt es sich um eine öffentliche Verhandlung, so ist gemäß Entwurf „die Öffentlichkeit herzustellen, indem die Videoverhandlung in Bild und Ton an einen öffentlich zugänglichen Raum im zuständigen Gericht übertragen wird“. 

Auch Videostreams sind geplant

Pilotprojekte sollen sogar noch einen Schritt weitergehen. In einzelnen Gerichten sollen Videostreams eingerichtet werden können, um die Öffentlichkeit an der Verhandlung teilhaben zu lassen – eine Übertragung in den Gerichtssaal ist dann nicht mehr notwendig.

Der Entwurf will den Ausnahmefall zur Regel machen, das wird sehr deutlich. Der Vorsitzende Richter soll bei einer anstehenden Verhandlung etwa auch dann eine Teilnahme per Video anordnen, wenn dies nur von einem der Verfahrensbeteiligten gewünscht wird.

Bisher war die Videoverhandlung nur vorgesehen, wenn alle Prozessbevollmächtigten den Wunsch geteilt hatten. Zudem soll ein Antrag auf Teilnahme per Video nicht einfach mit einem Formschreiben abgelehnt werden können, sondern nur mit einer konkreten, auf den Einzelfall bezogenen Begründung.

Es soll die Justiz als Arbeitgeber attraktiver machen

Was erstmal schräg klingen mag, ist vor allem als Maßnahme gedacht, um die Justiz als Arbeitgeber wieder attraktiver zu machen. Der Mangel unter den Staatsanwält:innen und Richter:innen wird immer eklatanter, hinzu kommt eine baldige Pensionierungswelle.

„Die Möglichkeit für Richterinnen und Richter nunmehr vom Homeoffice über Video zu verhandeln, bedeutet eine riesige Arbeitserleichterung und steigert die Attraktivität der Justiz als Arbeitgeber“, sagte der Grünen-Rechtspolitiker Till Steffen dem Tagesspiegel. „Nun haben auch die Richterinnen und Richter eine zusätzliche Motivation per Video zu verhandeln. Das Gericht wird in der Terminierung noch flexibler, was die Verfahren beschleunigen wird.“

Bei einer Verhandlung vor den Gerichten wird der Rechtsstaat für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar spürbar.

Sonja Eichwede, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.

Sonja Eichwede, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion äußerte sich etwas vorsichtiger zu dem Vorhaben. Die Entscheidung über eine Videoverhandlung vor den Gerichten sei nicht mit einem klassischen Arbeits-Video-Meeting vergleichbar, sagte sie dem Tagesspiegel.

„Bei einer Verhandlung vor den Gerichten wird der Rechtsstaat für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar spürbar – durch den Weg in die Gerichte, dadurch, dass ein Richter oder eine Richterin in einem Verhandlungssaal sich mit dem eigenen Anliegen auseinandersetzt“. Daher sei es aus ihrer Sicht richtig, dass die Präsenzverhandlung der Regelfall ist.

Praktiker zweifeln an den technischen Voraussetzungen

Videokonferenzen könnten aber auch zu einer Kosten- und Arbeitsersparnis führen. Es seien Regelungen gefunden worden, die den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten Möglichkeiten für mehr Flexibilität an die Hand gäben, sofern dies im Verfahren sinnvoll erscheine.

Gerichtsverhandlungen per Video sind in Deutschland bislang die Ausnahme.

© Gerichtsverhandlungen per Video sind in Deutschland bislang die Ausnahme.

Eichwede stellt aber auch klar: „Es bleibt dabei: Wenn eine Bürgerin oder ein Bürger in Präsenz vor ein Gericht treten will, wird das auch weiterhin passieren und niemand wird dann auf eine Videoverhandlung verwiesen. So gehen wir in der Justiz die richtigen Schritte in die Zukunft.“

Die Neue Richtervereinigung äußerte zumindest Vorbehalte gegen die Neuerungen. „Wir wollen uns der fortschreitenden technischen Entwicklung und dem Bedürfnis nach flexiblem und mobilem Arbeiten nicht verschließen, weisen jedoch darauf hin, dass die mündliche Verhandlung bei gleichzeitiger Anwesenheit aller Beteiligter erfahrungsgemäß eines der zentralen Qualitätselemente der Justiz darstellt“, schreibt der Vorstand in einer Stellungnahme.

Mit einem auf 50 Millionen Euro jährlich eingedampften Schmalspurbudget wird die Ampel-Koalition die Justiz-Digitalisierung in Deutschland nicht spürbar beschleunigen können.

Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes.

„Das Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten einer in Präsenz stattfindenden mündlichen Verhandlung sollte in jedem Falle beibehalten werden.“

Ein Problem dürfte vor allem die Technik spielen. „Der Bundesgesetzgeber scheint bei seinen Änderungen von einer technischen Ausstattung der Gerichte auszugehen, die dem Standard der meisten Gerichte leider nicht entspricht. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch wünschenswert“, sagte Tanja Keller, Sprecherin des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung, dem Tagesspiegel. Die finale Beratung und Abstimmung zu dem Gesetzesvorhaben wird in dieser Woche erwartet. 

Ähnlich argumentiert der Deutsche Richterbund. „Die Ampelkoalition beschließt heute zwar formal weitere Schritte zur Digitalisierung der Ziviljustiz, sie tut aber viel zu wenig für die praktische Umsetzung“, sagte Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn dem Tagesspiegel. „In zahlreichen Gerichten fehlt es weiterhin an leistungsfähiger Technik und IT-Support, um Videoverhandlungen noch weitaus häufiger einsetzen zu können.“

Der vom Bundesjustizminister versprochene Digitalisierungsschub verlaufe bislang eher in Zeitlupe. „Mit einem auf 50 Millionen Euro jährlich eingedampften Schmalspurbudget wird die Ampel-Koalition die Justiz-Digitalisierung in Deutschland nicht spürbar beschleunigen können.“

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