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Der Italiener Gianni Pittella, Chef der Sozialisten im EU-Parlament

© dpa/EPA/Patrick Seeger

Gianni Pittella, Chef der Sozialisten im EU-Parlament: „Europa muss sich ändern“

Der Chef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Gianni Pittella, spricht im Interview über den Austritt der Briten, Referenden und die Folgen der Sparpolitik für die EU.

Herr Pittella, die Briten haben sich für den Austritt aus der EU entschieden. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?

Der Tag nach dem britischen Referendum war ein trauriger Tag für Europa. Aber wir stehen jetzt nicht wie bei einer Beerdigung zusammen. Wir werden die Entscheidung des britischen Volkes natürlich respektieren. Allerdings muss man auch ganz klar sagen, dass es sich bei dem Votum in Großbritannien um eine Fehlentscheidung von historischem Ausmaß handelt. Der britische Regierungschef David Cameron ist für die Lage verantwortlich, die nun entstanden ist. Denn er ist es gewesen, der das Referendum für seine politischen Zwecke missbraucht hat. Premier Cameron hat seinen Rücktritt erklärt, nun sollte er umgehend Downing Street verlassen und damit nicht erst bis Oktober warten.

Sie haben kein Verständnis für die Beweggründe des Brexit-Lagers?

Die Briten haben für den Austritt gestimmt, weil sie sich von Bauchgefühlen und ungerechtfertigten Ängsten leiten ließen. Wenn eine Mehrheit der Briten glaubt, dass das Vereinigte Königreich die globalen Herausforderungen ganz isoliert bewältigen kann, dann ist das einfach nur kurzsichtig. Das Brexit-Lager hat den Menschen vorgegaukelt, dass Großbritannien alleine besser fährt als im europäischen Verbund.

Welche Folgen wird die Entscheidung für Großbritannien haben?

Das Vereinigte Königreich wird künftig wie ein Drittstaat behandelt werden. Großbritannien wird einen großen finanziellen und wirtschaftlichen Schaden davontragen, auch die Handelsbeziehungen werden leiden. Raus ist raus. Der neue Status Großbritanniens muss so schnell wie möglich definiert werden. Wir brauchen Klarheit. Fest steht in jedem Fall: Britische Unternehmen und Bürger können nicht die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft genießen, ohne zur EU zu gehören. Mit seiner Erklärung unmittelbar nach der Bekanntgabe des Endergebnisses am Freitagmorgen hat Cameron allerdings klargemacht, dass er eine andere Strategie verfolgt: Er spielt auf Zeit und will die Verhandlungen über die Austrittsbedingungen seinem Nachfolger überlassen.

Was wollen Sie konkret tun, um das zu verhindern?

Wir werden im Europaparlament den Antrag stellen, dass Cameron uns sofort förmlich vom Austrittswillen des britischen Volkes unterrichtet. Nur so können auch die Scheidungsverhandlungen nach Artikel 50 des EU-Vertrages schleunigst beginnen. Die EU hat zwar einen schweren Schlag erlitten, aber sie ist stark genug, um nicht in Schockstarre zu verfallen.

Das britische Referendum war nicht der erste Volksentscheid in letzter Zeit, bei dem sich EU-Bürger gegen die Europäische Union ausgesprochen haben: Im Dezember wandten sich die Dänen gegen eine weitere Kooperation in der europäischen Innenpolitik, im April stimmten die Niederländer gegen den Assoziierungsvertrag der Ukraine mit der EU. Muss das nicht ein Alarmsignal für die EU sein?

Das Problem besteht nicht darin, dass man den Bürgern das Wort gibt. Das ist Teil des demokratischen Prozesses. Es ist aber nicht hinnehmbar, wenn Referenden von Lügenkampagnen beherrscht werden. Genau dies ist in Großbritannien passiert: Die Kampagne des Brexit-Lagers bestand aus einer Sammlung von Lügen. Besonders schändlich war, dass das Brexit-Lager die Angst vor Einwanderung für seine Zwecke missbraucht hat. In jedem Fall sind die Signale klar, die von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern kommen: Europa muss sich ändern. Das heißt nicht, dass der Nationalismus wiederauferstehen soll. Sondern es bedeutet, dass Europa mehr als in der Vergangenheit das liefern muss, was seine Bürger erwarten: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wachstum, Investitionen, Sicherheit.

Was Gianni Pittella zur "Fünf-Sterne-Bewegung" sagt

Die neue Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi.
Die neue Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi.

© REUTERS

In Ihrem eigenen Land, in Italien, steht Ihre sozialdemokratische Regierungspartei PD unter Druck der EU-kritischen Fünf-Sterne-Bewegung. Dies war vor einer Woche bei den Kommunalwahlen in Rom zu beobachten, wo die Fünf-Sterne-Kandidatin gewann.

Tatsächlich war der Ausgang der Wahl in Rom ein Desaster. Der Grund für das dortige Ergebnis liegt allerdings in der Kommunalpolitik. Die Römer hatten die Nase voll von dem bisherigen Amtsinhaber, deshalb kam es zur Ablösung durch die Fünf-Sterne-Kandidatin Virginia Raggi. Aber es lässt sich nicht leugnen: In Italien und in anderen EU-Ländern haben wir es mit einer wachsenden EUSkepsis zu tun.

Wie wollen Sie der wachsenden EU-Feindschaft begegnen?

Zunächst einmal muss man erkennen, wie überhaupt so viel sozialer Sprengstoff in Europa angehäuft werden konnte. Die EU-Kommission unter José Manuel Barroso, die bis 2014 im Amt war, ist verantwortlich für die Verwerfungen, unter denen die EU heute leidet. Die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament will dies in vielerlei Hinsicht ändern: An erster Stelle steht für uns das Problem des Sozialdumpings. Das bedeutet, dass die Arbeiter, die in andere EU-Länder entsandt wurden, nicht das jeweilige Lohnniveau unterbieten dürfen. Zweitens muss es zu einer Korrektur der europäischen Sparpolitik kommen, die so viel kaputtgemacht hat – es muss mehr Investitionen in Europa geben. Drittens muss das Fiskaldumping ein Ende haben. Unternehmen müssen da ihre Steuern zahlen, wo sie auch ihre Gewinne erwirtschaften. Und viertens muss Europa endlich in der Flüchtlingskrise zu überzeugenden Antworten kommen – durch mehr Investitionen in den afrikanischen Herkunftsländern, die Schaffung eines europäischen Küstenschutzes und eine gerechte Umverteilung der Flüchtlinge in den EU-Staaten.

Kommen wir noch einmal auf das grundsätzliche Image der Europapolitik zurück. Nach der Ansicht des Europaabgeordneten Elmar Brok sind die Pro-Europäer auf lokaler und nationaler Ebene nicht gut genug. Sind Sie einverstanden?

Sicher können wir in der Kommunikation noch besser werden. Vielen Menschen ist einfach nicht bewusst, was das Europaparlament eigentlich macht. Doch das Hauptproblem liegt woanders: im Egoismus der Nationalstaaten. Dieser Egoismus führt dazu, dass die Politiker in den Hauptstädten die EU regelmäßig zum Sündenbock machen.

Italien gehört mit Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern zu den sechs europäischen Gründerstaaten. Sollten die sechs Länder jetzt vorangehen, um Europa nach dem britischen Referendum aus der Krise zu helfen?

Natürlich spielen die Gründerstaaten eine wichtige Rolle in Europa. Darüber hinaus will unsere Fraktion gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Partei Europas, den progressiven Kräften und der Zivilgesellschaft einen sozialdemokratischen Konvent ins Leben rufen, bei dem wir alle gemeinsam über die Zukunft Europas neu nachdenken werden. Ab dem kommenden Herbst werden wir in einem permanenten Dialog mit Gewerkschaften, den nationalen Parlamenten und Nichtregierungsorganisationen darüber reden, wie Europa verändert werden kann.

Was soll dabei herauskommen?

Es geht darum, die Grundlinien für ein neues Europa zu skizzieren. Wir haben bereits konkrete Ideen für einen Konvent. Es muss in Zukunft einen europäischen Finanzminister geben. Wir wollen den EU-Haushalt reformieren; das europäische Budget muss erhöht werden. Und nicht zuletzt: Wir setzen uns für die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten ein. So kann die EU auf eine demokratische Basis gestellt werden.

Zum letzten Mal gab es in Europa einen Konvent in den Jahren 2002 und 2003. Damals waren alle Mitgliedstaaten und das Europaparlament beteiligt. Das Ergebnis war eine EU-Verfassung, die allerdings 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Glauben Sie, dass ein vergleichbarer großer Konvent und eine Reform der EU-Verträge angesichts des Austrittsvotums der Briten überhaupt noch auf der Tagesordnung steht?

In naher Zukunft ist ein solcher Konvent zwar nicht vorstellbar. Langfristig ist es trotz des Votums der Briten denkbar, dass es zu einer Reform der EU-Verträge kommt. Das Dialogforum mit den Regierungen und der Zivilgesellschaft, das wir für den kommenden Herbst planen, kann dabei ein erster Schritt auf dem Weg zu einer EU-Vertragsänderung sein. Wir brauchen eine echte europäische Wirtschaftsregierung, welche die Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Staaten der Euro-Zone enger zusammenführt.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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