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Grünendämmerung: Wie Kretschmann zum Sympathieträger wurde

Winfried Kretschmann fährt in diesen Tagen eine Ernte ein, an deren Saat Elsbeth Mordo mitgewirkt hat. Als eine von sechs Grünen, die 1980 in den Stuttgarter Landtag einzogen. "Es war", sagt sie, "ziemlich fürchterlich".

Jetzt hat sie das Fotoalbum geholt, legt es auf den Küchentisch in ihrer Stuttgarter Wohnung, und dann muss sie lachen, ganz laut muss sie lachen. „Kennen Sie den?“ Ein pausbackiger Mann ist auf dem Foto zu sehen, Haare über den Ohren, eine viel zu große Brille. Seltsame Person, aber – irgendwie – der kommt einem doch bekannt vor. Ja, natürlich, Winfried Kretschmann, das muss doch Winfried Kretschmann sein. „Genau“, sagt sie. Der Mann, der 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg wird. Das Foto ist von 1980.

Auf dem Foto mit dem frühen Kretschmann und seiner Brille ist auch Elsbeth Mordo zu sehen. Eine winzige Person, zierlich, prächtiger blonder Haarschopf. 82 Jahre ist sie heute, und man würde sie sofort wiedererkennen – ganz anders als Kretschmann. Nur die Haare sind weiß, schlohweiß, wie man sagt, aber sie scheint alterslos agil und lebhaft und eine Frau von großer Herzlichkeit.

Ein stiller Tag in Stuttgart. Die Bahnhofsgegner machen Protestpause, und die Polizeiautos stehen arbeitslos im Regen. Nur die Unermüdlichen von der Mahnwache gegen Stuttgart 21 lagern frierend in ihrem Zelt. Kaum etwas will darauf deuten, dass vor wenigen Tagen ein politischer Taifun durch den deutschen Südwesten gestürmt ist. Nur hier und da weht gut durchwässert ein Rest an Wahlplakaten von den Bäumen: Winfried Kretschmann. Politikwechsel.

Den haben die Baden-Württemberger vor einer Woche herbeigewählt und mit ihm den Aufbruch in eine Zeit, in der das Kleine plötzlich groß wird, in die grüne Zeit eben. Aber bekanntlich werden selbst Riesen nicht als Riesen geboren, sondern kommen als Zwerge zur Welt. Und brauchen ihre Zeit, um zu wachsen.

Genau 31 Jahre währte diese Wachstumsphase bei den Grünen in Baden-Württemberg – seit dem 4. April 1980. Da zauste das Land nämlich schon einmal eine verblüffende Luftbewegung. Ein Taifun ist es nicht gerade gewesen, eher ein kleines Wehen, eine leichte Brise aus Südwest. 5,3 Prozent für diese neue Partei, die sich erst drei Monate zuvor mit so viel Ach wie Krach gegründet hatte. Zum ersten Mal waren die Grünen in einem Flächenstaat ins Parlament gezogen, nachdem sie es zuvor schon in Bremen geschafft hatten. Und die anderen Parteien schrieen Zeter und Mordio, um Himmelswillen, diese Störenfriede, Spinner, Kommunisten, Atomkraftgegner, Vaterlandsverräter. 5,3 Prozent, das waren sechs Abgeordnete. Eine eigene Fraktion war dem Häufchen in Stuttgart damals nicht gegönnt; sie hießen fortan „Gruppe Grüne“. Eine von diesen sechs war Elsbeth Mordo.

Die einzige Frau unter den grünen Parlamentariern. Quote war ein Fremdwort. Im gesamten Landtag waren es ja nur vier Frauen. So war das damals. Zeiten aus einem anderen Jahrhundert. Grüne Gründerzeiten.

Viel mehr als ihre Herzlichkeit brachte Elsbeth Mordo im April 1980 nicht mit in den Landtag. Nicht gerade die ideale Eintrittskarte in diese Politikmaschine. Eine Frau und noch dazu eine Grüne. „Es war“, sagt sie, „ziemlich fürchterlich. Die haben uns ausgelacht, als ob wir nicht normal wären.“

Und es stimmt ja, normal war das wirklich nicht. Wie sie da saß, in dieser Männerwelt, Mitglied gleich in zwei Landtagsausschüssen, links neben ihr ein Haufen Juristen, rechts noch einmal einer, und sie mittendrin: Elsbeth Mordo, Hausfrau. „Ich war unschuldig, naiv, und ich hatte keine Ahnung von Politik. Ich habe lieber Klavier gespielt und Cembalo.“

Wirklich, keine Ahnung. Bei der Waldorf-Schule hatte sie sich ein bisschen engagiert, weil da ihr Sohn war. Und gegen Atomkraft, weil in diesen Jahren die Kämpfe um das AKW Wyhl tobten. Aber das war es schon. Keine linke Kadererfahrung wie jener Winfried Kretschmann, der beim Kommunistischen Bund Westdeutschland seine politische Erstausbildung erlebt hatte, oder der Fuchs Wolf-Dieter Hasenclever, der wusste, wie man Geschäftsordnungsanträge stellt und dass man bei kontroversen Debatten so lange diskutieren muss, bis die Leute müde werden, und dann erst zur Abstimmung kommen darf. Hasenclever ist heute bei der FDP. Die hat am vergangenen Sonntag 5,3 Prozent der Stimmen bekommen. Genauso viel wie die Grünen damals, sagt Mordo. Aber ihre Partei hat jetzt 24,2 bekommen.

Ihre Partei? Nein, Elsbeth Mordo ist nicht mehr bei den Grünen. Schon lange nicht mehr. Aber davon wird sie später erzählen.

Jetzt, in ihrer Küche, von der man in das verregnete Grau dieses Tages sehen kann und hinab in den Talkessel Stuttgarts, ist sie immer noch mit ihrer Naivität und den ersten Landtagszeiten beschäftigt. Zum Beispiel mit dem allerersten Tag. Auch davon hat sie ein Bild im Fotoalbum. Da steht Elsbeth Mordo mit Rock und weißer Bluse und neben sich Holger Heimann in der Latzhose, auch so ein Vergessener der grünen Morgendämmerung. Und sie überreichen Lothar Späth, dem Ministerpräsidenten, einen kleinen Kaktus („der war von mir!“). Wenn er ihn gut behandle und groß ziehe, „dann werden Sie auch mit uns zurechtkommen“, haben sie damals zu Späth gesagt.

Und dann ist da noch ein Foto, auch von 1980. Eine wilde Gestalt schaut aus dem Album heraus, wüste Haare, das ganze Gesicht ein Vollbart. Kennen Sie den?, braucht Elsbeth Mordo da gar nicht zu fragen. Denn den erkennt man sofort. Rezzo Schlauch, der spätere Staatssekretär in der Schröder-Regierung. „Das war mein parlamentarischer Mitarbeiter“, sagt Elsbeth Mordo. Und da ist gleich noch ein zweiter: Fritz Kuhn, „ein kleiner Student aus Tübingen, der hatte immer so eine Jute-Tasche dabei“.

Schlauch und Kuhn – es waren die ersten Schritte von der Naivität zur Professionalität. „Die haben mir viel geholfen.“ Denn der gute Wille allein, das hatte Elsbeth Mordo schnell begriffen, bringt einen in der Politik nicht allzu weit. Also hat sie sich an die Arbeit gemacht, hat gerackert, nächtelang und die Tage sowieso, hat Gesetzestexte zu lesen gelernt und zu verfassen auch, hat 96 Parlamentsreden in den vier Jahren der Legislaturperiode gehalten. Ein Grüner müsste man sein, haben da manche CDU-Hinterbänkler geseufzt, die kaum je ans Rednerpult durften.

Nicht jeden aus der Gruppe der Grünen indessen hat es so stürmisch zum Reden getrieben. Und dann erzählt Elsbeth Mordo die Geschichte vom Parlamentskollegen Helgo Bran, dem Freiburger Abgeordneten, einem sonderbaren Gesellen, der eine besonders aparte Mission hatte: Er sorgte sich weniger um die Atomkraft, sondern eher um den japanischen Staudenknöterich, von dem er fürchtete, er werde in absehbaren Jahren die ganze Welt überwuchern. Helgo Bran war Biologe. Und als er zum ersten Mal im Landtag sprechen sollte, Jungfernrede, kam der Abgeordnete einfach nicht. Aus Angst. Und schon damals war es Winfried Kretschmann, der retten musste, was kaum mehr zu retten war, und unvorbereitet ans Pult trat. Auch das so eine Geschichte aus der grünen Morgendämmerung.

Von dort bis zum politischen Abend war es für Elsbeth Mordo nur eine kurze Zeit. Es war im vierten Landtagsjahr, als sie erfuhr, dass zwischen grünem Anspruch und grüner Wirklichkeit ein großes Loch klaffte. Ihr Mann war an Krebs erkrankt, die privaten Sorgen überwogen die politischen bei weitem, „ich war manches Mal am Heulen“, und sie fand sich alleingelassen unter den grünen Freunden, sehr allein. Sie hat nicht wieder kandidiert, aus Enttäuschung, aber auch weil andere nachdrängten, weil der politische Urkonflikt der Grünen explodierte, Fundis gegen Realos, und sie, Elsbeth Mordo, war weder das eine noch das andere. Es dauerte nicht lange, dann hat sie, verlassen von der Partei, die Partei verlassen.

Hat indessen weiter teilgenommen am grünen Schicksal, am Einzug in den Bundestag, am Einstieg in die Bundesregierung, am Eintritt in den Kosovo-Krieg („ich war dagegen“). Aber beim Protest gegen Stuttgart 21 hat sie nicht mehr mitgemacht. Dafür sei sie jetzt doch zu alt, hat sie sich gesagt, sei zu oft im Leben auf die Straße gegangen.

Manchmal läutet bei Elsbeth Mordo das Telefon, und Winfried Kretschmann ist dran. Will etwas mit ihr besprechen, einen Rat holen. Er ist ein Freund geworden, über 31 Jahre hinweg. Dabei hatte sie es ganz am Anfang nicht gerade leicht mit ihm. Ein Hitzkopf ist er gewesen damals, als „Bildungsbürgerin“ hat er sie beschimpft wegen ihrer Klavierspielerei. Die ausgleichende Art, mit der er heute so viele Sympathien sammelt, die hat er erst nach und nach erworben. Aber heute, ja, sagt sie, heute kann er das. Rechtschaffen, ehrlich, ernsthaft – sie weiß viele Adjektive für den alten Freund, den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands. Er fährt jetzt eine Ernte ein. An deren Saat sie mitgewirkt hat.

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