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Übers Ziel hinaus bei den Zinsausgaben? Finanzminister Christian Lindner (FDP).

© Reuters/Susana Vera

Hat Christian Lindner sich verschätzt?: Eigenwillige Zinspolitik mit Folgen

Aufgrund der Buchungspraxis des Bundes bei der Ausgabe von Anleihen sind die Zinsausgaben aktuell höher, als sie sein müssten. Das könnte den Etat stärker belasten als geplant.

2023 ist in der politischen Lebensplanung von Finanzminister Christian Lindner (FDP) ein wichtiges Jahr, auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Denn 2023 ist das Wendejahr, das Jahr, in dem er und die FDP den Schalter umgelegt haben und bei den Bundesfinanzen wieder Konsolidierung angesagt ist.

Was bedeutet, dass recht eng genäht wird in der Haushaltspolitik. Das gilt nicht nur beim Bundeshaushalt für 2024, der gerade im Bundestag beraten wird, sondern auch für den laufenden Etat. Und da stellt sich angesichts der aktuellen Lage am Anleihenmarkt mittlerweile die Frage, ob Lindner sich bei den Zinsausgaben nicht verschätzt hat.

Die hat er zwar recht üppig angesetzt. 39,8 Milliarden Euro – so lautet das Soll, was immerhin gut acht Prozent der Gesamtausgaben ausmacht. Nicht zuletzt mit dieser Zahl begründet der Finanzminister auch, warum konsolidiert werden muss.

39,8
Milliarden Euro hat der Bund 2023 für Zinsausgaben eingeplant

Doch einerseits wäre diese hohe Summe gar nicht nötig gewesen, sie geht nämlich zu einem Teil auf eine umstrittene Buchungspraxis zurück, die das Finanzministerium anwendet. Und andererseits reicht sie nun möglicherweise gar nicht.

Nach dem neuesten Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums (BMF) sind bis einschließlich September bereits Zinsausgaben in Höhe von 34,7 Milliarden Euro aufgelaufen. Hochgerechnet auf das Jahr käme man damit auf Zinsausgaben in Höhe von 46 Milliarden Euro.

Sollte Lindner am Ende tatsächlich über Plan liegen bei den Zinsausgaben, müsste er dafür im Bundestag das Okay einholen. Das wird er von den Koalitionsfraktionen zwar bekommen, aber dann könnte seine Anleihepolitik nochmals kritisch beleuchtet werden.

Mit möglicherweise weiterreichenden Folgen. Denn auch für 2024 hat Lindner in seinem Entwurf vom Sommer fast 39 Milliarden Euro für Zinsausgaben angemeldet, was angesichts der aktuellen Marktentwicklungen ebenfalls zu wenig sein könnte.   

Das Zinsproblem im Bundesetat rührt daher, dass Lindner bei der Neuverschuldung und der Refinanzierung auslaufender Bundespapiere nicht nur neue Anleihen ausgibt, sondern in hohem Maß das nötige Geld über die Aufstockung älterer Anleihen einnimmt. Im vierten Quartal gibt die Finanzagentur des Bundes nur eine einzige neue Anleihe aus, stockt aber 17 laufende Anleihen auf – im Volumen zwischen einer und fünf Milliarden Euro. 

Verlängerter Niedrigzins

Die aufgestockten Papiere haben meist deutlich geringere Zinskupons, als derzeit am Markt gefordert werden. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein großer Vorteil. Denn bei den kurzfristigen Papieren, die binnen zwei Jahren auslaufen, muss der Bund derzeit etwa 3,7 Prozent bieten. Bei länger laufenden Anleihen – bis zu 30 Jahre – sind es aktuell nahe an drei Prozent. Die Kupons der alten Anleihen liegen dagegen zwischen 0,0 und 2,6 Prozent. Verlängerte Anleihen wirken daher zunächst wie ein Sparprogramm.

Da die Käufer am Markt die niedrigeren Zinsen alter Anleihen aber nicht akzeptieren, muss der Bund bei Aufstockungen einen mehr oder weniger hohen Preisabschlag bieten. Und dieser Abschlag – das Fachwort lautet Disagio – kann saftig sein.

Eine 30-jährige Nullzinsanleihe von 2021 etwa, die Mitte November zur Aufstockung ansteht, notiert derzeit nur mit einem Wert von 42. Der Rücknahmekurs ist stets 100. Statt einer Milliarde nimmt der Bund also nur 420 Millionen ein. Insgesamt sollen im vierten Quartal 47,5 Milliarden Euro über länger laufende Anleihen eingenommen werden, am Ende könnten aber nur 41 oder 42 Milliarden unterm Strich stehen.

Zinsabschläge werden auf einen Schlag verbucht

Diese Abschläge verbucht das Finanzministerium allerdings nicht gestreckt auf die Restlaufzeit der Anleihen, sondern auf einen Schlag in diesem Jahr. Das erklärt einen Großteil des hohen Anstiegs der Zinskosten von 15 Milliarden im Vorjahr auf nunmehr fast 40 Milliarden Euro. Und deswegen gibt es auch das Risiko, am Jahresende höhere Zinsausgaben als geplant melden zu müssen. Derzeit gehen die Anleihenrenditen deutlich nach oben, weshalb der Bund noch höhere Preisabschläge bieten muss.

Vorerst geht Lindner jedoch davon aus, dass sein Plan aufgeht. „Die Zinsentwicklung im Jahr 2023 liegt bisher in der eingeplanten Schwankungsbreite“, teilte eine Sprecherin des Finanzministeriums mit. Der Ansatz im Haushaltsgesetz in Höhe von 39,8 Milliarden Euro werde weiterhin „als ausreichend eingeschätzt“. Aber was sich bis Dezember noch tut, ist unwägbar. Bei den „Disagioausgaben“, heißt es daher im Ministerium, „gibt es kein jährliches Muster“.

Sollte Lindner im Plan bleiben, würde er das nicht zuletzt den gesunkenen Energiepreisen verdanken. Denn dadurch fallen die vorgesehenen Hilfsmaßnahmen – alle über Kredite finanziert – nun geringer aus. Der Bund muss sich so weniger Geld leihen, das geplante Gesamtvolumen für 2023 konnte daher schon um satte 45 Milliarden Euro reduziert werden.

Zinsniveau an den Märkten gestiegen

Würde Lindner seine Anleihepolitik ändern, mehr neue Anleihen ausgeben lassen und die Zinslast auf die Laufzeit strecken, gäbe es mehr Spielraum im Haushalt. Der Koalitionszwist um den Etat 2024 könnte entschärft werden. Der Finanzminister selbst hat vor einigen Wochen das Volumen der Preisabschläge (und damit den ungenutzten Spielraum) für 2023 auf 15,8 Milliarden Euro beziffert. Mittlerweile dürfte die Summe wegen des gestiegenen Zinsniveaus an den Märkten höher sein.

Kritik an den Aufstockungen und den sofort als Ausgaben gebuchten Abschlägen gibt es schon länger. Der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums und auch die Bundesbank haben die Praxis bereits 2021 gerügt, als die Zinswende noch gar nicht absehbar war.

Zuletzt hat sich das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln kritisch geäußert und moniert, dass durch das zeitnahe Verbuchen von Abschlägen „eine solide und verlässliche Haushaltspolitik“ im Rahmen der Schuldenbremse erschwert werde.

Deutschlands „Benchmark-Status“ soll erhalten bleiben

Aber das Finanzministerium will weiter an Aufstockungen und der Buchungspraxis festhalten. Lindner selbst verweist dabei immer wieder auf den „Benchmark-Status“ der Bundesrepublik unter den Staaten, also die Top-Position. Um diesen zu erhalten (und damit auch die damit verbundenen guten Zinskonditionen am Markt), sei „ein verlässliches Auftreten als Emittent“ nötig, so die Ministeriumssprecherin. „Daher sind Aufstockungen als wesentlicher Bestandteil der Emissionspraxis des Bundes unverzichtbar.“ 

Laut BMF sind Aufstockungen auch in anderen Staaten üblich. Noch stärker als Deutschland wird das Instrument demnach in Frankreich, Großbritannien und Schweden genutzt. Die USA und Japan dagegen sind deutlich zurückhaltender, im Euro-Raum auch die Niederlande oder Österreich.

Aber warum kommt in Deutschland noch die sofortige Vollverbuchung der Preisabschläge als Zinsausgaben hinzu? Immerhin verweist das Ministerium auf Anfrage des Tagesspiegels selbst darauf, dass eine Mehrheit der EU-Staaten nicht so verfährt. „Etwa ein Viertel der Staaten, darunter Deutschland, tut das bisher nicht“, sagte die Sprecherin.

Die Buchung von Disagios „folgt der durch das Haushaltsrecht vorgegebenen Systematik“, heißt es zu Erklärung, und diese sei „nach dem Grundsatz der Kameralistik organisiert“. Was bedeutet, dass eben verbucht wird, wenn eine Einnahme oder Ausgabe anfällt.

Das Fazit: Durch die Buchungspraxis des Finanzministers sind die Zinsausgaben kurzfristig höher, als sie sein müssten – und verschärfen so eine ohnehin angespannte Haushaltslage. Auch der Benchmark-Vorteil des geringeren Zinses, den Deutschland hat, wird durch die Einmalbuchung minimiert.

In der Finanzplanung geht das Niveau der Zinsausgaben bis 2027 nicht zurück, was auch an dieser Anleihepolitik liegt. Deren aktueller Vorteil – die Verlängerung niedrig verzinster Kredite in die Zukunft – wird erst in einigen Jahren durchschlagen. Dann aber ist das Zinsniveau nach allgemeiner Erwartung ohnehin wieder niedriger.

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