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Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, spricht im Bundestag.

© dpa/Michael Kappeler

Christian Lindner und die Eisbergfrage: Wie viele Schulden verträgt Deutschland?

Der Finanzminister will wegen höherer Zins- und Tilgungslasten im Etat umsteuern. Seine Kritiker halten dagegen, dass mehr Schulden zu verkraften wären. Wer hat recht?

Christian Lindner hat es derzeit mit Eisbergen. Er hat sogar ein ganzes Eisbergfeld ausgemacht, irgendwo hinter dem Horizont. „Wir stehen in der Verantwortung, nicht zu warten, bis der Eisberg vom Horizont vor den Bug gekommen ist“, sagt der Bundesfinanzminister. Der Eisberg werde seinen Kurs nicht ändern, also müsse die Haushaltspolitik es tun.

Der Staatsdampfer eine Titanic, auf der die Kapelle spielt und alle ahnungslos tanzen? Nur der Finanzminister nicht? Für einen wie Lindner, der sich in der Rolle des umsichtigen Kapitäns sieht, ist das Bild natürlich verlockend.  

Der Bundesfinanzminister weiß, dass die Zukunft dem Bundesetat deutlich höhere Lasten bei den Zinsausgaben und der Tilgung von Schulden bescheren wird. So dient das Eisbergfeld als Begründung für seinen Konsolidierungskurs und seinen Widerstand gegen alles, was über das mit der Schuldenbremse Mögliche hinaus gewünscht wird – in der Koalition, von der Opposition, von den Interessenverbänden.

Hinter der Horizontlinie, für uns noch nicht sichtbar, da kommt ein Eisberg, um nicht zu sagen: ein Eisbergfeld.

Christian Lindner (FDP) zur Mehrbelastung in künftigen Etats

Deshalb bremst Lindner bei weiteren Sozialleistungen, daher lehnt er einen kreditfinanzierten Industriestrompreis ab, deswegen will er keine kurzfristigen Konjunkturspritzen. Aber liegt er damit richtig? Ist das Eisbergfeld wirklich eine große Gefahr? Oder nimmt der FDP-Chef eine tiefgekühlte Fata Morgana wahr?

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Der Bundesrechnungshof hat in seiner kritischen Analyse des Bundeshaushalts gerade erst darauf hingewiesen, dass sich von 2028 an die Finanzlage des Bundes „noch einmal verschärfen“ werde. Derzeit noch bestehende Finanzreserven und die Kreditspielräume in den Nebenetats wie dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) und dem Sondervermögen Bundeswehr seien dann aufgebraucht.

Danach aber müssen die Notlagenkredite aus den Jahren 2020 bis 2022 sowie die für die Bundeswehr-Aufrüstung im Zuge des Ukraine-Kriegs aufgenommenen Schulden getilgt werden, weil das gesetzlich so vorgeschrieben ist (im Gegensatz zur regulären Verschuldung im Rahmen der Schuldenbremse).

„Mehr als drei Dekaden“

Laut Rechnungshof werden dann „über mehr als drei Dekaden“ die Bundesetats zunächst mit elf Milliarden Euro im Jahr, von 2031 an mit etwa 17 Milliarden Euro belastet werden. Dazu kommt noch der deutsche Anteil bei der Tilgung von Notlagenkrediten der EU aus der Pandemiephase.

Addiert werden müssen die wachsenden Kreditkosten. Sie sind mit der Zinswende wieder deutlich höher geworden. Im Haushalt für 2024 plant Lindner mit Zinsausgaben in Höhe von knapp 37 Milliarden Euro. Die müssten zwar nicht so hoch sein, wenn der Finanzminister die derzeit nötigen Kursabschläge bei der Aufstockung alter Niedrig- und Nullzinsanleihen nicht auf einen Schlag im Etat verbuchen würde, sondern zeitlich gestreckt. Andererseits minimiert er auf diese Weise die künftige Zinslast.

1,7
Billionen Euro Schulden hat der Bund.

Wohin der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) mittelfristig tendiert, ist natürlich unklar. Am Donnerstag wurde er nochmals angehoben, der untere Satz liegt nun bei 4,0 Prozent. Die Rendite für Bundesanleihen liegt darunter, auf kurze Frist musste die Finanzagentur des Bundes zuletzt etwa 3,6 Prozent bieten, bei langlaufenden Anleihen waren es etwa 2,7 Prozent. An den Finanzmärkten wird also mit einem mittelfristig fallenden Leitzins gerechnet. Aber es wird, so die verbreitete Erwartung, keine Rückkehr in eine Niedrigzinszeit geben. Höher für längere Zeit – das scheint der aktuelle Konsens zu sein.

Tritt das ein, werden die Zinsausgaben mittelfristig deutlich nach oben gehen. Derzeit beträgt die Schuldenlast des Bundes 1,66 Billionen Euro – zum Jahresende dürften es mehr als 1,7 Billionen sein, mit der absehbaren Neuverschuldung im kommenden Jahr werden dann wohl schnell 1,8 Billionen und mehr erreicht sein. Etwa ein Drittel dieser Summe kam in der Krisenzeit nach 2019 zusammen – damals lag der Schuldenstand bei knapp 1,2 Billionen.

Bund muss mehr bieten

Da sich der Bund in den vergangenen Jahren sehr kurzfristig (wenn auch günstig) verschuldet hat, muss er nun für die Folgekredite mehr bieten. Denn üblicherweise tilgt der Staat seine Schulden nicht, sondern gibt neue Anleihen aus, um sie abzulösen.

Nimmt man an, dass der aktuell gebotene Zins von 2,7 Prozent tatsächlich längerfristig einzuplanen wäre, dann müsste ein künftiger Finanzminister bei etwa 1,8 Billionen Euro eine jährliche Zinslast von fast 50 Milliarden Euro im Jahr einkalkulieren. Dazu kämen dann die Tilgungen in Höhe von zunächst elf, später 17 Milliarden Euro.

Der zweitgrößte Posten

Um das einzuordnen: In der Finanzplanung sind für 2027 Gesamtausgaben in Höhe von knapp 470 Milliarden Euro vorgesehen. Ab 2028 nähert sich der Bundeshaushalt der 500-Milliarden-Marke. Will heißen: Zins- und Tilgungslasten werden dann etwa ein Achtel des Etats verschlingen. Damit wäre der Titel Bundesschuld der zweithöchste nach dem Einzeletat des Sozialministeriums. Zieht man von dem den riesigen Rentenzuschuss ab, wäre die Bundessschuld sogar der höchste Einzeletat.  

Dass die Kreditlast durch Tilgungen insgesamt deutlich abnimmt, ist zudem nicht abzusehen: In der Finanzplanung von 2023 bis 2027 sind neue Kredite in Höhe von fast 110 Milliarden Euro eingestellt – das ist der Spielraum, den die Schuldenbremse dem Bund lässt, und der dürfte auch längerfristig von den Regierungen genutzt werden.

Ist Lindner mit seinem Konsolidierungsdrang also der richtige Mann auf der Brücke? Viele sind nicht der Meinung und machen eine andere Rechnung auf. In der Koalition ist der Kurs des Finanzministers bei SPD und Grünen mindestens umstritten.

Die Frage der Tragfähigkeit

Auch unter Ökonomen gibt es viele, die angesichts der Wirtschaftslage und der Herausforderungen durch Klimakrise und Deglobalisierung mehr kreditfinanzierte Ausgaben fordern. Im Kreis der Wirtschaftsweisen wird das befürwortet, auch das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln gehört in diese Phalanx.

Es geht hier weniger um die Wirkung auf den Bundeshaushalt als um die Frage der Tragfähigkeit hoher Schulden für ein Land und seine Wirtschaft. In einer Studie geht das IW die Eisbergfrage daher von einer anderen Seite an mit dem Ziel, „den Verschuldungsspielraum wachstumspolitisch zu öffnen“.

Die IW-Ökonomen sind der Meinung, dass ein dauerhaftes Defizit von 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung problemlos zu verkraften wäre. Bezogen auf 2023 wären das 61 Milliarden Euro. Mit einem wachsenden Bruttoinlandsprodukt würde die Summe der neuen Kredite jährlich steigen.  Das IW hält sogar eine Obergrenze von 1,8 Prozent für machbar. Wie auch immer: Die Neuverschuldung läge damit deutlich oberhalb der von Lindner gezogenen Linie.

Moderat im Vergleich?

Das IW verweist darauf, dass Deutschland damit aber im internationalen Vergleich immer noch in der Liga der moderat verschuldeten Staaten bliebe. Wegen der Pandemie war die deutsche Schuldenquote 2021 nahe an 70 Prozent gestiegen, seither fällt sie wieder. Das würde sich laut IW mit dem höheren Schuldenziel ebenfalls ergeben – wenn auch langsamer.

Die Euro-Stabilitätsvorgaben sehen eine Höchstverschuldung von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung vor. Aber das ist seit Jahren kein wirksames Kriterium mehr. Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich und Belgien liegen teils weit über hundert Prozent.

Insgesamt liegt die Schuldenquote im Euroraum bei 92 Prozent. Aber es gibt in der EU eben auch Länder wie Dänemark (30 Prozent) , Schweden (33 Prozent), Irland (44 Prozent) oder die Niederlande (51 Prozent), die mit geringeren Quoten glänzen und weit mehr Luft nach oben haben.

Was die Tragfähigkeit betrifft, ist die Schuldenquote ein entscheidender Faktor - gerade in Zeiten steigender Zinsen. In den USA (120 Prozent Schuldenquote) und Großbritannien (100 Prozent) ist das schon ein politisches Thema, denn dort liegen die Zinsen noch deutlich über dem EZB-Niveau. Japan hat eine Schuldenquote von etwa 260 Prozent – die Notenbank dort hält den Leitzins nahe null.    

Die Eisbergfrage wird die politische Debatte der nächsten Zeit mitbestimmen und dürfte im Bundestagswahlkampf 2025 eine nicht geringe Rolle spielen. Angesichts der Mitte-Position Deutschlands – einerseits hohe Etatbelastungen durch Kredite und Tilgungen, andererseits eine im Vergleich noch moderate Staatsverschuldung – könnte der Streit heftig werden.

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