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Eine Rakete steckt in einem Getreidefeld nahe der Stadt Mykolajiw in der Region Cherson.

© IMAGO/NurPhoto

Wurden russische Truppen in die Falle gelockt?: Das Rätsel der ausbleibenden ukrainischen Offensive im Süden

Mitte Juli kündigte Kiew eine große Offensive in Cherson im Süden der Ukraine an. Von der ist bisher wenig zu sehen. Was steckt dahinter? Eine Analyse.

Rund einen Monat ist es nun her, dass der ukrainische Generalstab den Start einer großangelegten Gegenoffensive in der Region Cherson bekannt gab. Vorangegangen war ein entsprechender Befehl des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Regierung rief die Bürger der russisch kontrollierten Stadt Cherson auf, zu fliehen. Wenn nicht anders möglich, sogar in von Moskau besetztes Gebiet weiter östlich.

Die Ankündigung der Offensive kam nicht überraschend: Russland bereitet in den besetzten Gebieten Pseudo-Referenden für einen Anschluss vor. Außerdem bauen die russischen Truppen ihre Verteidigungsstellungen kontinuierlich aus. Je später Kiew reagiert, je schwieriger könnte die Rückeroberung werden.

Und zu guter Letzt: Auch der Westen wartet auf einen Erfolg der Ukraine; quasi einen Beweis, dass sie verlorenes Land tatsächlich zurückerobern kann – und das vor dem Hintergrund einer sich zum Winter hin zuspitzenden Energiekrise in Europa.

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Doch wer damals auf schnelle und großflächige Landgewinne der Ukrainer spekulierte, muss sich inzwischen enttäuscht sehen. Zwar rücken Kiews Truppen vor, aber nur sehr langsam. Ihre Landgewinne sind mit dem zähen Vorankommen der russischen Truppen während der Donbass-Offensive vergleichbar.

Nach den vollmundigen Ankündigungen aus Kiew hat Russland zudem große Truppenkontingente in den Süden entsandt. Mancher Beobachter geht davon aus, dass sich inzwischen die Hälfte aller russischen Verbände in der Ukraine im Süden befindet. Aber wer schnell und möglichst ohne große Verluste Gebiete erobern will, will eigentlich nicht gegen mehr, sondern weniger Soldaten kämpfen.

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Nur heiße Luft aus Kiew also? Eher nicht, denn das würde nicht zum bisherigen, sehr konzentrierten und taktischen Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte passen. Experten gehen davon aus, dass ein Plan hinter der Verzögerung steckt. Der Militärhistoriker Phillips O´Brien spricht auf Twitter sogar von einer Finte. Doch mit welchem Ziel?

Drei mögliche Erklärungen gibt es:

  • Erstens: Die Ukraine wollte Druck von der Front im Osten nehmen, den Russen dort keine weiteren Gebietsgewinne zugestehen, vielleicht sogar Lücken schaffen, um selbst dort in die Offensive zu gehen. Wenn Russland Truppen in den Süden abzieht, wird genau das möglich.
  • Zweitens: Die Ukrainer können im Süden ihre Waffen mit großer Reichweite, wie die US-Raketenwerfer Himars und westliche Artillerie, sehr viel besser einsetzen. Die Front besteht aus einer vergleichsweise geraden Linie und nicht aus Taschen wie im Donbass, wo die Russen häufig von drei Seiten angreifen und mit ihrer Artillerie feuern können. So argumentierte auch der ukrainische General Dmytro Marchenko in einem Interview kürzlich. Marchenko koordiniert von Mykolajiw aus die Truppen im Gebiet Cherson. Je mehr russische Truppen im Süden versammelt seien, je mehr könne man in kurzer Zeit kampfunfähig machen, sagte er. Die ukrainische Artillerie könne gut auch mit mehr russischen Truppen zurechtkommen.
  • Drittens: Das Gelände im Süden mit vielen Flüssen spielt den Ukrainern in die Hände. Sie können die russischen Kräfte voneinander trennen und einzelne Verbände von Verstärkung abschneiden. Die wichtigste Trennlinie ist dabei der Fluss Dnepro mit nur drei größeren Übergängen. Zwei davon sind aktuell schon zerstört. Einzig der Übergang an einem Staudamm nördlich der Stadt Cherson ist noch funktionsfähig (Update, Sonntag 14. August: Für Autos ist die Straße über den Damm laut ukrainischem Militär inzwischen nicht mehr befahrbar). Auch den wollen die Ukrainer unpassierbar machen, erklärte Marchenko. Wenn die russischen Truppen völlig vom Nachschub abgeschnitten seien, würde der Angriff erfolgen, kündigte er an.

Aber was auch immer das konkrete Ziel der ukrainischen Führung mit der Ankündigung der Offensive war, die dann nicht kam - der Krieg hat sich jetzt schon verändert.

Ein zerstörtes russisches Munitionslager in der Stadt Nowa Kachowka, die auf der östlichen Seite des Dnepr liegt.
Ein zerstörtes russisches Munitionslager in der Stadt Nowa Kachowka, die auf der östlichen Seite des Dnepr liegt.

© IMAGO/ITAR-TASS

Da die Militärführung im Kreml tausende Truppen in den Süden verlegt hat, sind die Vorstöße in anderen Teilen der Front fast zum Erliegen gekommen. Nur an einer Stelle im Süden des Donbass rücken die russischen Truppen noch vor. Erste Erfolge mit Gegenstößen haben die Ukrainer laut Berichten wohl schon in der Region um Isjum, die zentral für den russischen Nachschub in den Nord-Donbass ist.

Die Ukraine diktiert also, wie und wo Russland seine Kräfte konzentriert, wie und wo gekämpft wird. Kiew hat das Heft des Handels wieder in der Hand.

Experten sehen darin den Beginn der dritten Phase des Krieges. Im Donbass - in der zweiten Phase - diktierte Russland den Fortgang und den Ort der Schlacht. Die erste Phase war vor allem vom Kampf um Kiew geprägt. 

Vielleicht ist es aber aktuell auch so, wie schon häufiger in diesem Krieg: Die Ukrainer machen aus der Not eine Tugend.

Experten sind sich einig, dass Kiews Truppen für eine großangelegte, komplexe Offensive im Süden sowohl die entsprechenden Waffen als auch die Soldaten fehlen. Das Ziel wäre dann, die russischen Truppen solange zu schwächen und zu zermürben, bis sie sich von selbst zurückziehen oder ergeben. Im Süden kann das besser gelingen als im Norden oder Osten.

Dass dieser Prozess aus Sicht der Ukrainer nicht allzu lange dauern könnte, legt eine weitere Aussage des Generals Marchenko nahe: „Ich möchte den Menschen in Cherson sagen, dass sie sich noch eine Weile gedulden sollen. Es wird nicht so lange dauern, wie alle erwarten. Ab einem gewissen Punkt wird es ganz schnell gehen."

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