zum Hauptinhalt
Noch Fragen?

© Julian Stratenschulte/picture alliance / dpa

Heimat: Ich bin Deutscher, durch und durch

Für die einen ist es ein Identitäts-, für die anderen ein Kampfbegriff. Heimat? Damit kann ich nichts anfangen. Dem Wort fehlt etwas Wichtiges – der Plural. Ein Essay.

Ein Essay von Malte Lehming

Heimat hat Konjunktur. Als Flucht- und Zufluchtsort, als konservativer Identitäts- und nationalistischer Kampfbegriff. Linke tun sich traditionell schwer mit dem Wort. Sie fürchten Ab- und Ausgrenzung. Bald aber soll sogar ein Ministerium für die Pflege der Heimat verantwortlich sein. Dabei fehlt dem Wort etwas sehr Wichtiges – der Plural. Die Heimaten.

Ich bin Deutscher, durch und durch. In Hamburg geboren, in den Vorstädten Quickborn und Pinneberg zur Schule gegangen, in Hamburg Abitur gemacht. Mutter aus Kiel, Vater aus Berlin, drei Geschwister. Migrantenkinder gab es in den Schulen, die ich besucht habe, nicht. Karl May gelesen, hoch und runter, Geige gelernt, im Nordseewatt gewatet, im Kinderchor beim Weihnachtsoratorium gesungen, das erste Mofa herbeigesehnt. Das ganz normale Programm.

Meine erste Heimat. „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen“: Das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms rührt mich bis heute. Nach der Schule Philosophie studiert, Kant, Hegel, Marx, in den Nebenfächern Deutsche Literatur und Neuere Geschichte. Franz Kafka verschlungen, Kurt Tucholsky, Karl Kraus, Georg Büchner, Hans Erich Nossack (Hamburger Schriftsteller, kennt keiner mehr), Hannah Arendt, Gertrude Stein. Gedichte auswendig gelernt, viele Gedichte. Vielleicht ist es anmaßend, dies zu sagen, aber der eisige Nordwestwind an der Küste von Schleswig-Holstein und die deutsche Sprache leben in mir, fest und unverzichtbar. Heimat.

Brille, Geige und Bücher statt Party

Meinen Zivildienst habe ich als Freiwilliger der „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ knapp zwei Jahre lang in Israel geleistet. Die Sprache, Ivrith, habe ich in einem Kibbuz gelernt. Das war Anfang der achtziger Jahre. Im Kibbuz galt ich als „Joram“, heute würde man „Nerd“ sagen - Brille, Geige und Bücher statt Party, Frauen und Sport. In der Gemeinschaftsküche gearbeitet, zusammen mit „Snowheads“, so nannte man die betagten, weißhaarigen Kibbuzniks, viele von ihnen aus deutsch- oder jiddischsprachigen Ländern, einige hatten KZ-Nummern auf dem Arm. Sie liebten mich, weil mein Deutschsein ihnen ein Stück verlorene Heimat zurückbrachte.

In Jerusalem oft in die Erlöserkirche gegangen, in der Gottesdienste auf Deutsch gehalten wurden. Dutzende Abende bei Gad Granach verbracht, der 1915 in Rheinsberg geboren und 1936 nach Palästina emigriert war. Bei „Gadi“, dem Sohn des Schauspielers Alexander Granach, gab es Brandy mit Soda, Guacamole und eine Fleischsuppe. Nach dem Essen erzählte er, spätestens nach einer Stunde schmerzte das Zwerchfell vor Lachen.

In der Nähe meines Wohnhauses in Jerusalem stand ein Altersheim. Einer der Bewohner, Itzchak, kam jede Woche und fragte: „Hast du wieder Bilder?“ Damit meinte er historische Fotos aus „Spiegel“ und „Zeit“, auf denen Nazis abgebildet waren. Itzchak war Holocaust-Überlebender, die Nazis kannte er alle. Mit seinem Zeigefinger klopfte er auf ihre Gesichter, nannte Namen und Funktionen. Die Bilder schnitt er aus und klebte sie in seinem kleinen, spärlich eingerichteten Zimmer im Altersheim mit Mehl und Wasser in Jerusalemer Telefonbücher. Die Bücher wölbten sich wegen der Mehlpampe, rund ein Dutzend waren es zu meiner Zeit.

Manchmal träume ich von der Negev-Wüste

Zwei Jahre Israel, das prägt. Bis heute erinnere ich mich physisch an die Zeit. Meine Art zu reden verändert sich, wenn ich mit Israelis zusammen oder wieder im Land bin. Ein leichter Singsang dringt in meine Stimme. Ich kann nichts dagegen tun. Es ist wie ein erworbener auslösender Mechanismus, der bestimmte Reize in Reaktionen verwandelt. Manchmal träume ich von der Negev-Wüste oder dem Strand in Tel Aviv. Heimat – auch das.

Wer länger im Ausland gelebt hat, wird ein anderer. Er gewinnt Distanz zu seiner Scholle, zu Gewohntem und Vertrautem. Die Vogelperspektive wird ihm selbstverständlich. Ich glaube allen Ernstes, bei Menschen, die ich neu kennenlerne, innerhalb von einer Gesprächsstunde sagen zu können, ob sie längere Zeit im Ausland waren. Es ist wie ein Geheimbund.

Während des Studiums wohnte ich mit einem türkischen Freund in einer WG. Er war Muslim, mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen, lernte rasend schnell die Sprache, brachte allerdings öfter deutsche Sprichwörter durcheinander. Abends schrieb er in sein Projektbuch: eine Regenwurmfarm eröffnen, einen Öko-Supermarkt, Hochbetten schreinern. Dann rechnete er. Wie hoch ist die Investition, wie hoch der mutmaßliche Gewinn? Längst ist er Millionär.

Meine zweite Auslandsstation führte mich als Korrespondent fünf Jahre lang in die USA. 9/11, Afghanistan, Irak, Anthrax, Schwarzenegger, Rassenunruhen in Cincinnati (im deutschen Stadtteil „Over The Rhine“), Hinrichtung von Timothy McVeigh. Die horizontweitende Entdeckung von Religions- und Meinungsfreiheit. Unsere Kinder wurden dort geboren. Und die Erkenntnis: Der Unterschied zwischen Amerika und Europa ist größer als der zwischen, zum Beispiel, Schweden und Spanien, Dänemark und Griechenland. Auch an die USA erinnert sich mein Körper. Ich bewege mich dort anders als hier, fühle und spreche anders. Heimat – auch das. Vielleicht habe ich eine Ichschwäche.

Auch Flüchtlinge haben Heimaten

Ich bin evangelischer Christ, gehe sonntags in den Gottesdienst. Die Kirche meiner Heimatgemeinde wird auch genutzt von der Chinesisch Christlichen Gemeinde Berlin. Das Christentum in China ist die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft der Welt. Darüber wollte ich mehr wissen und besuchte vor wenigen Jahren in der Adventszeit mehrere Gottesdienste, überwiegend in Peking, Shanghai und Hongkong. Chinas Christen sind eher pfingstkirchlich, charismatisch und evangelikal geprägt, dennoch fühlte ich mich bei ihnen in der Fremde zu Hause. Gemeinschaft der Gläubigen. Das gilt auch im überkonfessionellen Sinne. Praktizierende Juden, Christen und Muslime teilen eine Welt. Indifferente, Säkulare, Agnostiker, Humanisten und Atheisten teilen eine andere Welt.

Das sind Stationen eines Lebens, das so oder anders hätte verlaufen können. Meine Heimaten haben mich bereichert, beglückt. Eine Heimat? Damit kann ich nichts anfangen. Je mehr es von ihnen gibt, desto besser.

Auch Flüchtlinge haben Heimaten. Sie fühlen sich denen nahe, mit denen sie über Skype abends in ihren Herkunftsländern reden, mit denen, die sie freitags in der Moschee treffen, vielleicht auch anderen Flüchtlingen aus anderen Herkunftsländern, mit denen sie monatelang auf engstem Raum in einer Unterkunft gelebt haben. Und dann wird ihnen auch Deutschland zur Heimat. Das geschieht ganz automatisch. Denn Heimat, ob im Singular oder Plural, ist nichts, das man vergessen, nichts, das man verdrängen, nichts, das man erzwingen, nichts, das man eintauschen kann gegen eine andere. Es kommen nur immer neue hinzu. Für jeden, überall.

Am heutigen Montag, dem 26.2. um 19 Uhr, diskutieren Souad Abbas (Chefredakteurin Abwab) und Bernd Ulrich im Tagesspiegel-Gebäude über „(Neue) Heimat Deutschland? Zwischen Sehnsucht und Realität“, mit Exiljournalisten. Kostenlose Anmeldung unter https://veranstaltungen.tagesspiegel.de

Zur Startseite