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Die Kämpfe nehmen zu.

© Reuters

Update

IS-Terror im Irak: Mehr als 600.000 Menschen flüchten in den Norden

Kurden, Iraker und auch die USA verstärken ihren Einsatz gegen die Kämpfer der IS-Terrormiliz. Hunderttausende flüchten in den Norden des Landes. Die bundesweite Demonstration gegen den IS-Terror in Bielefeld startete friedlich.

Mehr als 600.000 Menschen haben sich in die kurdische Autonomieregion im Nordirak geflüchtet. Wie die Vereinten Nationen (UN) am Samstag mitteilten, sind etwa 380.000 Iraker vor den Angriffen der Terrormiliz Islamischer Staat in die weitgehend stabile Region im Norden des Landes geflohen. Hinzu kämen rund 230.000 Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg. Nach UN-Angaben sind seit Montag rund 200.000 Menschen innerhalb des Iraks aus ihren Häusern vertrieben worden, rund 40.000 davon aus der Stadt Kirkuk. Die meisten stammen aus christlichen und jesidischen Dörfern im Nordirak. Weiterhin seien noch Tausende vornehmlich jesidische Familien im irakischen Sindschar-Gebirge eingeschlossen.

Die UN-Mission im Irak schätzt ihre Zahl auf 15.000 bis 55.000. Die Jesiden waren mehrere Tage lang von Hilfsgütern abgeschnitten, bevor US-Maschinen in der Nacht zum Freitag erste Hilfslieferungen abwarfen. Kurdische Medien berichteten, dass IS-Extremisten auf Flüchtlinge schossen, die versuchten, das Gebirgsmassiv in Richtung Syrien oder Kurdistan zu verlassen.

Die USA hatten ihre Luftangriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Nordirak zuvor ausgeweitet. Drohnen und vier F-18-Kampfjets flogen nach Angaben des Washingtoner Verteidigungsministeriums eine zweite Angriffswelle auf Stellungen der Extremisten nahe der Stadt Erbil. Eine unbekannte Anzahl von Kämpfern sei getötet worden, sagte Pentagonsprecher John Kirby. US-Kampfflugzeuge hatten bereits zuvor IS-Stellungen bombardiert. Auch die irakische Luftwaffe und kurdische Einheiten griffen die Dschihadisten an. Kurdische Peschmerga hätten einen Angriff der radikalen Islamisten auf den Ort Tus Churmatu südlich der Stadt Kirkuk abgewehrt, berichtete die irakische Nachrichtenseite Shafaaq News am Samstag. Demnach erlitten die Extremisten „schwere Verluste“. Über Opfer aufseiten der kurdischen Einheiten wurden keine Angaben gemacht.

Die USA flogen eine zweite Angriffswelle.

© dpa

Zudem warfen Frachtmaschinen erneut Lebensmittel und Trinkwasser für die notleidenden Zivilisten im Sindschar-Gebirge ab. Drei Transportflugzeuge hätten Wassercontainer und zehntausende von Mahlzeiten im Sindscharf-Gebirge abgeworfen, teilte das Pentagon in der Nacht zu Samstag in Washington mit. Die Hilfsgüter seien für tausende irakische Bürger bestimmt, die von der Dschihadistengruppe bedroht würden, hieß es weiter. Es war die zweite Hilfsaktion dieser Art seit Donnerstag. Tausende Jesiden harren seit Tagen ohne Wasser und Nahrung in den Bergen nördlich der Stadt Sindschar aus, die von IS-Kämpfern erobert worden war. US-Außenminister John Kerry erklärte am Freitag in Kabul, die IS-Offensive gegen Jesiden und Christen zeigten "alle Anzeichen eines Genozids".

Obama geht in den Urlaub

Noch ist unklar, wie lange die Einsätze dauern könnten. US-Präsident Barack Obama hat keinen Zeitpunkt für ein Ende der Angriffe festgelegt. Er hat sich aber grundsätzlich zu umfangreicheren Luftschlägen gegen die Islamisten bereiterklärt. "Wir werden tun, was immer nötig ist, um unsere Leute zu schützen", sagte Obama am Samstag in seiner öffentlichen Rundfunkansprache. Zugleich bekräftigte er, dass der amerikanische Einsatz eng begrenzt sei. US-Kampftruppen würden nicht in den Irak zurückkehren, „denn es gibt keine amerikanische militärische Lösung zu der größeren Krise dort“, sagte Obama. Der Präsident würdigte in der Rundfunkansprache den Einsatz der „mutigen“ US-Flugzeugbesatzungen über dem Irak. Sie schützten nicht nur Mitbürger, sondern auch das Leben Unschuldiger im Gebirge - „Menschen, die heute wissen, dass es ein Land namens Amerika gibt, dem auch sie am Herzen liegen und das willens ist zu handeln - nicht nur für unser eigene Sicherheit, sondern für die Würde und Freiheit aller Menschen“.

In einem Interview sagte er der “New York Times“:"Wir werden es nicht zulassen, dass sie ein Kalifat in Syrien und im Irak errichten." Voraussetzung sei aber, dass die politischen Spitzen im Irak die Regierungskrise beenden und einen Weg der Zusammenarbeit finden. Wenn es Partner in der irakischen Führung gebe, sei eine größere Unterstützung der USA denkbar, um die radikalen Kämpfer der IS zurückzudrängen.

Das Weiße Haus teilte unterdessen mit, dass Obama trotz der Luftangriffe wie geplant am Samstag seinen Sommerurlaub auf der Insel Martha's Vineyard vor der Küste des Bundesstaates Massachusetts antreten werde. Dort will der Präsident zwei Wochen mit seiner Familie ausspannen. Obama werde aber auch an seinem Urlaubsort Entscheidungen treffen können, versicherte sein Sprecher Earnest. Die USA hatten am Freitag erstmals seit dem Vormarsch der Islamisten-Milizen im Nordirak mit Luftschlägen direkt in die Kämpfe eingegriffen. Dadurch soll die Einnahme der Stadt Erbil im halbautonomen Kurdengebiet durch IS-Kämpfer verhindert und die Verfolgung religiöser und ethnischer Minderheiten gestoppt werden.

Aufruf zu Demos in Deutschland

Ein US-Regierungssprecher bekräftigte, der Einsatz von US-Bodentruppen werde kategorisch ausgeschlossen. Er fügte hinzu, die USA stimmten ihre Angriffe auch mit den Nato-Mitgliedern ab. Fragen über eine mögliche Beteiligung des Bündnisses wich er aus. Wenn es konkrete Wünsche gebe, werde man an die Mitglieder herantreten. Der einflussreiche US-Senator und Republikaner John McCain sprach von einem halbherzigen Vorgehen der US-Regierung. Er forderte weitaus entschlossenere Schritte. Die IS-Gruppe habe eine Expansion zum Ziel „und muss gestoppt werden“, meinte der frühere Präsidentschaftsbewerber. Ziel der US-Angriffe ist es, eigene Landsleute im Irak zu schützen sowie den Vormarsch der äußerst brutalen sunnitischen IS-Extremisten und die Verfolgung christlicher und anderer Minderheiten zu stoppen. Hunderttausende sind im Nordirak auf der Flucht.

IS-Dschihadisten erobern weite Teil des Irak. Nun greift die US-Luftwaffe in den Konflikt ein.

© AFP

In Deutschland riefen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Jesiden erneut zu Demonstrationen gegen die IS-Gräueltaten auf. Die bundesweite Demonstration in Bielefeld hat friedlich begonnen. Etwa 700 Demonstranten seien bisher anwesend, viele weitere unterwegs zu einer Bielefelder Radrennbahn, sagte eine Polizeisprecherin am Mittag. Dort sollte die Veranstaltung mit einer Kundgebung um 14.00 Uhr beginnen. Es gebe keine Hinweise auf Störungen. Die Veranstalter erwarten insgesamt um die 10 000 Teilnehmer. Militärexperten in Washington rechnen am Wochenende mit weiteren US-Luftangriffen. Auch die Abwürfe von Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten etwa für die bedrohten Jesiden dürften fortgesetzt werden, berichtete der TV-Sender CNN. „Wir sind bereit zu tun, was der Präsident genehmigt hat“, sagte Kirby. Die Militärs würden „wann und wenn nötig“ weitere Einsätze fliegen - möglicherweise auch in der Umgebung Bagdads.

Kurdische Journalistin stirbt

Beim Angriff von Dschihadisten auf ein Lager im Nordirak ist offenbar eine kurdische Reporterin getötet worden. Deniz Firat sei am Freitag von einem Granatsplitter im Herzen getroffen worden, erklärte die Nachrichtenagentur Firat, einer ihrer Arbeitgeber, auf ihrer Website. Demnach ereignete sich der Vorfall in dem Ort Machmur etwa 280 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad. Dort sind Familien von türkischen PKK-Kämpfern in einem Lager untergekommen. Machmur war in den vergangenen Tagen mehrfach von Kämpfern der IS angegriffen worden.

Angesichts der Luftangriffe verboten die Behörden den US-Fluggesellschaften, den Irak zu überfliegen. Die Lufthansa will Erbil zunächst bis zum 11. August nicht mehr anfliegen. Auch Austrian Airlines und Turkish Airlines fliegen vorerst nicht mehr über das Gebiet. Die Führung der kurdischen Autonomieregion bestätigte derweil die Eroberung des strategisch wichtigen Mossul-Staudamms durch IS-Kämpfer. Der Stabschef im Präsidialamt, Fuad Hussein, sagte nach Angaben des kurdischen Nachrichtenportals „Basnews“, der größte Staudamm des Landes befinde sich in den Händen der Dschihadisten. Die Talsperre liegt rund 40 Kilometer nordwestlich Mossuls.

Der Bund gibt Millionen für Flüchtlinge

US-Vizepräsident Joe Biden betonte in seinem Telefonat mit Massum die Notwendigkeit einer raschen Regierungsbildung. Es komme darauf an, Schiiten, Sunniten und Kurden im Irak zu versöhnen, teilte das Weiße Haus mit. Die Regierungsbildung in Bagdad ist seit Wochen überfällig und wurde wegen interner Streitigkeiten immer wieder hinausgeschoben. Die USA betonen, letztlich gebe es keine militärische, sondern nur eine politische Lösung im Land. Frankreich begrüßte das Eingreifen der USA. Frankreich sei bereit seinen Teil beizutragen, um gemeinsam mit den USA und anderen Partnern dem Leiden der Zivilbevölkerung ein Ende zu bereiten. Mögliche Maßnahmen würden geprüft, hieß es in einer Mitteilung des Élyséepalastes.

Die Bundesregierung stellte vorerst 2,9 Millionen Euro für die Bewältigung des Flüchtlingsdramas zur Verfügung. Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenseite „Rudaw“ waren 50 000 Jesiden nach ihrer Flucht vor den Dschihadisten tagelang im Sindschar-Gebirge eingeschlossen. Mindestens 70 Menschen seien an Unterversorgung gestorben. Viele würden sich inzwischen von Blättern ernähren, berichten Augenzeugen. Einem Bericht des kurdischen Nachrichtenportals „Basnews“ zufolge konnten kurdische Soldaten inzwischen eine große Zahl der Flüchtlinge in Sicherheit bringen. (AFP/dpa)

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