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Johannes Ludewig

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Johannes Ludewigs Erinnerungen: Bericht von der Wende aus nächster Nähe

Johannes Ludewig schreibt über die "Planer, Macher und Visionäre" beim Aufbau Ost. Er bereichert damit die Geschichtsbücher. Eine Rezension

Es gab in der DDR viele Lehrbücher, in denen man nachlesen konnte, wie man von der Marktwirtschaft zu einer Planwirtschaft kommt, aber leider keines für den umgekehrten Weg, hat Lothar de Maizière einmal gewitzelt. Andere haben das Thema der ökonomischen Sanierung einer maroden Befehlswirtschaft sarkastisch als das Problem umschrieben, wie man aus einer Fischsuppe wieder einen Fisch machen kann. Das Buch von Johannes Ludewig ist der Bericht über das Ringen mit dieser paradoxen Herausforderung und ihre erfolgreiche Bewältigung. Es ist der Fall der Wiedervereinigung, mit der aus dem geteilten und in seinem östlichen Teil heruntergewirtschafteten Land ein florierendes neues Deutschland wurde: Für die wirtschaftliche und soziale Seite dieses Abenteuers war der Autor, der am kommenden Montag 70 Jahre alt wird, von 1990 an im Kanzleramt zuständig.

Im innersten Zentrum der Macht

Sein Buch hat das Verdienst, diesen Jahrhundertvorgang ins Gedächtnis zurückzurufen, und zwar in seinem Status Nascendi, in der dramatischen Phase seines Anfangs. Es beschreibt instruktiv und realitätsnah die Entscheidungen, Überlegungen, Konflikte und Weichenstellungen, mit denen im innersten Zentrum der Macht dieses erstaunliche Geschehen eingeleitet, angeschoben und gesteuert wurde. Dabei zeichnet es das Buch aus, dass der Autor aus der Perspektive des eigenen Erlebens, der Beobachtung, oft in tagebuchhafter Nahsicht berichtet. So gibt Ludewig der Geschichte die Offenheit wieder, die sie hatte, als sie sich, vor einem Vierteljahrhundert, ereignete.

Und die war so spektakulär, dass sie sich fast der rückblickenden Vergegenwärtigung entzieht. „Solche tiefgreifenden Veränderungen in kürzester Zeit – von Unternehmens- und Wirtschaftsstrukturen, von Städten und Regionen“, resümiert Ludewig, „hat es im Deutschland der Nachkriegszeit weder vorher noch nachher gegeben“. Tatsächlich gab es weder für den Prozess der Wiedervereinigung wie für den nachfolgenden Aufbau Ost erprobte Rezepte, musste von Situation zu Situation – und oft genug von Krise zu Krise – entschieden werden und nahezu jede Station auf diesem Weg bedeutete einen Schritt in Neuland.

Aus der Versenkung, in der mittlerweile dieser dramatische Umbruch abgesunken ist, hebt Ludewigs Buch die Kreuz- und Krisenpunkte von Wiedervereinigung und Aufbau Ost heraus. Konsequent setzt der Wirtschaftsexperte mit jener Maiwoche vor 25 Jahren ein, in der die Währungsunion beschlossen wurde – „entworfen und ausgehandelt in weniger als 18 Tagen!“ – eine „Weltneuheit“, wie er, selbst im Rückblick noch staunend, feststellt. Später sind es vor allem die politischen und ökonomischen Anstrengungen, mit denen der Aufbauprozess im Osten gegen das Einbrechen der Konjunktur im Westen 1992/93 gefestigt werden musste. Denn Selbstläufer waren nur die Krisen. Dann die Politik der Sicherung und Erneuerung der „industriellen Kerne“, die die wankende Ost-Wirtschaft stabilisieren sollte. Und Ludewig erinnert an die Monate und Jahre, in denen sich Begriffe wie Chemiedreieck, das Braunkohlequartier Niederlausitz oder das SKET-Werk in Magdeburg anhörten wie seinerzeit die Namen von entscheidenden Schlachten in Kriegsberichten.

„Wirtschaftslenker und Sozial-Gutmenschen“

Natürlich ist das Ganze in Ludewigs Sicht eine Erfolgsgeschichte, bei der er sich und seinen Mitstreitern auch mal kräftig auf die Schulter klopft. Umso bemerkenswerter ist es, wie scharf seine Kritik an vielen Protagonisten der (alten) Bundesrepublik ausfällt. Den deutschen Banken kreidet er zum Beispiel einen „Patriotismus besonderer Art“ an, weil sie nach dem Inkrafttreten der Währungsunion, als die ersten Alarmmeldungen aus ostdeutschen Betrieben einliefen, Kredite nur dann bereitstellten, wenn sie staatlich abgesichert wurden. Ganz schlecht zu sprechen ist er auf die West- Länder, die bei der Finanzierung der Vereinigung den aus der alten Bundesrepublik sattsam bekannten föderalen „Erpressungsmechanismus“ gegenüber dem Bund praktizierten. Und bitter registriert er, dass auch die großen „Wirtschaftslenker und Sozial-Gutmenschen“, sprich Industrielle und Gewerkschaftsfunktionäre, ihrer historischen Aufgabe des deutsch-deutschen Brückenschlags oft nicht gerecht geworden sind.

Hat man bisher einen westdeutschen Spitzenbeamten so herb über die bundesrepublikanische Führungsschicht urteilen hören? Aber war jemand auch so offen für Skrupel in Bezug auf das eigene Verhalten im Vereinigungsprozess? Haben die West-Deutschen die Sensibilität ihrer Partner in Ost-Berlin ausreichend erkannt, fragt sich Ludewig, der doch im Ruf steht, ruppig zu sein. War zum Beispiel die Sicherung der Waggonbau-Industrie durch den Verkauf an den kanadischen Investor Bombardier, der kräftig Standorte reduzierte, wirklich eine gute Idee? Die Arbeit der Treuhand bewertet er im Ganzen positiv. Aber hat die westdeutsche Seite immer die richtige Sprache gefunden? In Zeiten, in denen sich für die Menschen im Osten alles ändert, habe es nicht richtig sein können, schreibt Ludewig, die Stilllegung eines Unternehmens – wie offenbar geschehen – per Fernschreiben mitzuteilen.

Natürlich enthält das Buch auch immer wieder vergleichsweise nüchterne, referierende und bilanzierende Passagen. Denn bei dem gewaltigen Vorgang, den Ludewig dem Leser nahezubringen versucht, braucht es eben auch trockene Daten und die Nachzeichnung des Problemrahmens, in dem er stattfindet. Aber den Ton gibt ihm doch die lebhafte Teilnahme des Autors am Geschehen. Und so hält das Buch auch fest, wie der Ministerialdirektor an einem Februartag 1990 ins Lagezentrum des Bundeskanzleramtes rennt, um sich eine Nachricht bestätigen zu lassen – sie betrifft Gorbatschows Erklärung gegenüber Kohl, dass die Wiedervereinigung Sache der Deutschen sei, und das, so Ludewig, „verändert eigentlich alles“. Oder auch wie er im Elysée wie „vom Donner gerührt“ auf seinem Stuhl sitzt, als Mitterrand – dank Kohls Überredungskunst – seine Position um 180 Grad ändert und der Sitz der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt geht.

Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 288 Seiten, 22 Euro.
Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 288 Seiten, 22 Euro.

© Osburg

Wiedervereinigung und Aufbau Ost: In Ludewigs Buch erscheinen sie wie eine verzweifelt komplizierte, doch erfolgreiche Operation, bei der mit viel Einsatz und auch Glück schwerere Komplikationen vermieden werden konnten. Womit Ludewig vermutlich der Wirklichkeit vermutlich ziemlich nahekommt. Und auch mit seiner Überzeugung, dass entscheidend die Menschen und die Persönlichkeiten waren. In der Mitte, selbstverständlich, Helmut Kohl, denn Ludewig ist ein in der Wolle gefärbter Kohl-Mann. Allerdings gelingt es ihm, aufgrund seiner Nähe zum Kanzler, auch vieles an der Rolle nachvollziehbar zu machen, die Kohl mit seinem politischen Instinkt und der Sicherheit, mit der er den Prozess zwischen allen Klippen hindurch steuerte, für die Nachwende-Politik spielte. Eine förmliche Ehrenrettung gilt Günther Krause, dem DDR-Verhandlungsführer, dem Ludewig ein zentrales Verdienst an der Einheit zumisst. Und hohe Bewunderung dem ermordeten Treuhandchef Detlev Rohwedder.

Das beeindruckende Buch, das seine Kritiker finden wird, nimmt für sich ein, weil es den heißen Atem des Geschehens und die Mühsal des Vereinigungsalltags spüren lässt. Es ist ein persönliches Zeugnis der Zeit, in seinem Enthusiasmus, aber auch in dem streitbaren Freimut, auch Verdienste und Versagen zu beziffern. Und es bereichert vielleicht sogar die Geschichtsbücher. Zum Beispiel mit der Überzeugung, dass der Aufbau Ost auf zwei gleichwertigen Säulen ruhte: auf der Solidarität der Westdeutschen und auf den ostdeutschen Industrie-Betriebsräten. Die einen hätten ohne Widerstreben die Finanzierungs-Milliarden zur Verfügung gestellt. Die anderen hätten mit einem erstaunlichen Sinn für Realitäten die mit Abstand größte Last des Strukturumbruchs getragen. Ohne die Betriebsräte und ihre Belegschaften wäre der Aufbau Ost nicht möglich gewesen – eine Leistung, die Ludewig historisch nennt, und deren Wahrnehmung und Würdigung, wie er hinzufügt, noch ausstehe.

– Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 288 Seiten, 22 Euro.

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