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Europa geht baden: Die Regierung will die Flüchtlingspolitik drastisch verschärfen.

© Tiziana Fabi/AFP

Koalitionsvertrag präsentiert: Italiens neue Regierung wendet sich von Europa ab

Ob Finanz- oder Flüchtlingspolitik: Die neue italienische Regierung stellt mit ihrem Koalitionsvertrag sämtliche Regeln der EU infrage.

Zweieinhalb Monate hat es nach der Wahl gedauert, am Freitag war es endlich soweit: Der Koalitionsvertrag für eine der ungewöhnlichsten Regierungen Italiens ist geschrieben. „Ich bin richtig glücklich“, erklärte der Chef der Fünf-Sterne-Protestbewegung (M5S), Luigi Di Maio, nachdem die Verhandlungen abgeschlossen waren.

Noch am gleichen Tag sollten die M5S-Aktivisten im Internet über das Regierungsprogramm abstimmen. Die Mitglieder des Regierungspartners Lega können am Sonntag an Ständen der Partei ihre Meinung kundtun. Am Montag werden Di Maio und Lega-Chef Matteo Salvini Staatspräsident Sergio Mattarella ihre Aufwartung machen und ihm – wahrscheinlich – den zurzeit noch unbekannten neuen Regierungschef vorschlagen.

„Vertrag für eine Regierung der Veränderung“

„Vertrag für eine Regierung der Veränderung“ lautet der Titel des 57 Seiten umfassenden Vertrags. Das ist sicher nicht übertrieben: Falls die neue Regierung aus der postideologischen Protestbewegung M5S und der rechtsextremen Lega tatsächlich zustande kommt, wird man sich in Brüssel auf größere Veränderungen vorbereiten müssen. Das Programm belegt vor allem eines: Die künftige Regierung stellt praktisch sämtliche Regeln und Verpflichtungen Europas in Frage – und ist auch bereit, diese zu verletzen. Die Ablehnung der „Euro-Bürokraten“ in Brüssel ist der Kitt, der die beiden unterschiedlichen Partner zusammen hält.

Einen Vorgeschmack auf das, was auf Europa zukommen könnte, hatte Brüssel Anfang der Woche erhalten. In einer Fassung des Koalitionsvertrags vom Montag fand sich die Forderung nach einem Schuldenerlass in der Höhe von 250 Milliarden Euro durch die Europäische Zentralbank (EZB). Das ist fast genau so viel, wie alle drei Rettungspakete für Griechenland insgesamt gekostet hatten. Gleichzeitig war von der Vorbereitung eines Referendums über den Austritt aus der Gemeinschaftswährung die Rede.

Die beiden Punkte hatten genügt, um den Euro auf den tiefsten Stand seit Dezember fallen zu lassen und die Mailänder Börse auf Talfahrt zu schicken. Der Schuldenerlass und der Euro-Austritt sind aus dem Programm gestrichen worden.

Massive Neuverschuldung ist Gefahr für den Euro

Doch die eigentliche Gefahr für Europa und seine Einheitswährung lauert ohnehin anderswo – bei einer unkontrollierten, massiven Neuverschuldung Italiens, das bereits heute 2,3 Billionen Euro Schulden mit sich schleppt. Nach wie vor im Koalitionspapier enthalten sind eine drastische Steuersenkung auf zwei Steuersätze von 15 und 20 Prozent sowie die Einführung eines Grundeinkommens von 780 Euro pro Monat, eine Senkung des Renteneintrittsalters und eine Erhöhung der Mindestrenten.

Der frühere Ökonom des Internationalen Währungsfonds und Sparkommissar der Regierung, Renzi Carlo Coltarelli, hat ausgerechnet, dass diese Pläne ein Loch von 100 Milliarden Euro in die Staatskasse reißen würden. Werden sie umgesetzt, würde diese zur schweren Belastung für den Euro – eine neue Finanzkrise scheint nicht ausgeschlossen.

Luigi Di Maio (links) und Matteo Salvini stellten den Koalitionsvertrag in Rom vor.
Luigi Di Maio (links) und Matteo Salvini stellten den Koalitionsvertrag in Rom vor.

© Tiziana/AFP

Im Koalitionspapier heißt es dazu lakonisch, dass die Maßnahmen mit einer „angemessenen und begrenzten Neuverschuldung“ finanziert werden müssten. Wirklich angemessen und begrenzt wäre eine jährliche Neuverschuldung von 100 Milliarden Euro nicht: Das Haushaltsdefizit würde sich dadurch von heute 1,5 Prozent auf mehr als sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) erhöhen. Den Maastricht-Verträgen zufolge beträgt die Obergrenze drei Prozent. Aber das Korsett der Maastricht-Verträge und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der EU ist den neuen Regierungspartnern zu eng: Diese müssten revidiert werden, lautet die Forderung im Koalitionspapier.

Eine radikale Kursänderung versprechen die Koalitionäre auch in der Migrationspolitik. Das entsprechende Kapitel trägt die Handschrift von Lega-Chef Salvini, der im Wahlkampf versprochen hatte, die Grenzen dicht zu machen und die rund 500.000 sich illegal im Land aufhaltenden Migranten „einen um den anderen zurück zu spedieren“.

Auch das Dublin-Abkommen wird infrage gestellt

Ein besonderer Dorn im Auge ist der künftigen Regierung das Dublin-Abkommen, das besagt, dass Flüchtlinge in jenem Land ihr Asylgesuch stellen müssen, in welchem sie erstmals europäischen Boden betreten. Dieses müsse „überwunden werden“. Eine weitere Forderung: Für die auf dem Seeweg in Italien ankommenden Flüchtlinge müsste eine „obligatorische und automatische Umverteilung auf alle EU-Länder“ eingeführt werden.

Mehr oder weniger gleiche Forderungen hatten schon die Vorgängerregierungen gestellt – mit sehr mäßigem Erfolg. Fast noch illusorischer wirken die Pläne, die „Illegalen“ in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Im Koalitionspapier heißt es, dass die sich illegal in Italien aufhaltenden Migranten in geschlossenen Strukturen untergebracht werden sollen, in denen sie bis zu ihrer Abschiebung bleiben müssten.

Das letzte Wort hat Staatspräsident Sergio Mattarella

Italien müsste also neue Lager für eine halbe Million Menschen bauen. Hinzu kommt, dass Rom nur mit vier Ländern – Tunesien, Ägypten, Marokko und Nigeria – über Rücknahmeabkommen verfügt. Von den internierten Immigranten könnte nur ein kleiner Teil tatsächlich in ihre Heimat abgeschoben werden.

Angesichts der zahlreichen abenteuerlichen und zum Teil auch realitätsfernen Forderungen ist der Koalitionsvertrag von M5S und Lega schon als „Buch der Träume“ bezeichnet worden. Immerhin: Bei der Ernennung des künftigen Regierungschefs und der Minister hat Staatspräsident Sergio Mattarella das letzte Wort. Das Staatsoberhaupt dürfte dafür sorgen, dass im künftigen Kabinett ausreichend Sachverstand vorhanden sein wird, um das Schlimmste vielleicht zu verhindern.

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