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Angela Merkel am 9. Mai 2010 in Moskau.

© dpa

Kriegsende in Moskau, Reparationen für Athen: Die Vergangenheit ist gegenwärtig

Die Kanzlerin setzt auf Erinnerungspolitik, wenn sie die Vergangenheit in den Dienst der aktuellen Politik stellen kann. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Im besten Fall öffnet gemeinsame Erinnerung neue politische Optionen. Im schlechten Fall blockiert der Streit um die Geschichte die Handlungsfähigkeit der Regierenden.

Fürs Erste sind sie mal wieder gefangen in ihrer Geschichte, die Deutschen und die Griechen; die Deutschen und die Russen. Die Griechen drohen deutsches Eigentum zu beschlagnahmen, wenn es keine Einigung auf Entschädigungen für Leiden und Schäden im Zweiten Weltkrieg gibt – obwohl die Frage aus deutscher Sicht rechtlich abschließend geklärt ist.

Merkel besucht mit Putin einen Soldatenfriedhof

Gegenüber Wladimir Putin schlüpft Angela Merkel in eine Sonderrolle. Historisch ist Deutschland eben ein Sonderfall. Kein westlicher Staatspräsident oder Regierungschef wird wohl Putins Einladung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes folgen. Was wäre das auch für ein Signal: mit ihm bei einer Parade russische Soldaten ehren, während sein Militär im Nachbarland Ukraine einen verdeckten Angriffskrieg unterstützt? Auch die Kanzlerin fährt nicht, jedenfalls nicht am 9. Mai.

Einen Tag später fährt sie dann doch. Sie besucht mit Putin einen Soldatenfriedhof. Was ist am 10. anders als am 9. Mai, in Moskau und in der Ukraine? Andererseits: Die Rote Armee gehörte zu der Allianz, die die Deutschen von ihrer Diktatur befreite. Das kann Angela Merkel nicht ignorieren. Und will es auch nicht. Vielleicht öffnet ihr Sonderweg eine Option, die Eskalation in der Ukraine zu stoppen oder wenigstens zu unterbrechen.

Erpressungsversuch aus Athen

Das ist der kategorische Unterschied zum Streit mit Athen um Reparationen. Die griechische Drohung weist keine neuen Wege zur Lösung des Schuldendramas. Athen missbraucht die Geschichte für einen Erpressungsversuch. Selbst wer den Griechen deutsche Entschädigungen gönnt, wird nicht behaupten, dass die Summen Griechenlands selbst geschaffene Wirtschaftsprobleme beheben. Athen wird so wohl kaum Freunde in der Euro-Zone gewinnen. Die Pose des Anklägers nervt nahezu alle Partner.

Da ist Merkels Alleingang nach Moskau – wenn es denn dabei bleibt – von anderem Kaliber. Sie bindet damit auch ihren Gastgeber. Das wird Wladimir Putin doch wissen: Angela Merkel kann ihre Reise zur Ehrung Gefallener immer noch absagen, falls er es wagen sollte, in der Ostukraine wieder auf Angriff umzuschalten und das Abkommen von Minsk vollends ad absurdum zu führen.

Erinnerungspolitik im besten Sinn

Es gibt zwei gegenläufige Interpretationen, was derzeit in der Ostukraine vor sich geht. Die gute Botschaft: Schwere Waffen werden von bisherigen Frontlinien abgezogen. Es gibt kaum noch Artilleriegefechte. Die beunruhigende Nachricht: In der Umgebung der Stadt Mariupol, die Pessimisten als nächstes russisches Eroberungsziel ausmachen, werden Waffen und Soldaten verstärkt. Kann die Aussicht auf Merkels Besuch am 10. Mai acht Wochen relativer Waffenruhe in der Ostukraine sichern?

Das wäre Erinnerungspolitik im besten Sinn: Sie steht im Dienst aktueller Politik und beeinflusst dann auch wieder die Geschichtspolitik. Dazu sollte zum Beispiel die Erinnerung gehören, dass nicht Russen allein die Deutschen von Osten her befreiten. Ukrainer und Weißrussen hatten großen Anteil daran. Im Idealfall ehren deutsche Politiker auch sie. Die Sorge der zwischen Deutschen und Russen lebenden Völker, übersehen zu werden, ist noch lange nicht überwunden.

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