zum Hauptinhalt
Nach einem Gutachten von TÜV Süd ist ein Betrieb des AKW Isar 2 in Bayern auch nach Dezember noch möglich.

© imago images/Andreas Haas

„Lediglich eine politische Akzeptanzfrage“: Wie realistisch ist ein AKW-Weiterbetrieb – und welchen Nutzen hat er?

Die Union und die FDP befeuern die Debatte um die Laufzeitverlängerung der letzten deutschen Atomkraftwerke. Das sagen Experten dazu.

Wie angespannt die Lage am Gasmarkt ist, erkennt man dieser Tage an der Debatte um eine in Deutschland längst totgeglaubte Energieform. Die Diskussion um die Atomenergie, um die Jahrzehnte hart gerungen wurde, erscheint kurz vor ihrer letzten Nutzung wie ein Geist, der nicht so recht zurück in die Flasche will.

„Kein Kubikmeter Gas sollte mehr verstromt werden müssen. Deswegen wäre es jetzt richtig, die Laufzeiten der Kernkraftwerke über den Winter hinaus zu verlängern“, sagte Christian Dürr, Chef der FDP-Bundestagsfraktion, am Montag. „Liebe Grüne, springt über Euren Schatten. Keine Denkverbote. Tut es für Deutschland“, schrieb CDU-Chef Friedrich Merz in einem Beitrag für die „Bild“. Die Grünen wiederum sprechen von einer „Scheindebatte“, die Ampelkoalition ist gespalten. 

Doch läuft alles nach Plan, gehen die letzten drei Atomkraftwerke in weniger als sechs Monaten vom Netz. So wurde es im Atomausstieg 2011 beschlossen. Die verbleibenden Kraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 machen derzeit noch rund fünf Prozent der deutschen Stromproduktion aus. Ihre Leistung von 4,3 Gigawatt ist gesichert, anders als jene aus Windrädern und Solaranlagen, wenn kein Wind weht oder die Sonne nicht scheint.

Der Krieg in der Ukraine und die Gaspreiskrise befeuern wohl auch deshalb schon seit Monaten die Debatte und bescheren Befürwortern einer Laufzeitverlängerung enormen Rückenwind. Zuletzt hatte sich selbst die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm für längere AKW-Laufzeiten ausgesprochen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) zeigte sich offen, die Laufzeit von Atomkraftwerken für eine kurze Zeit zu verlängern, wie er am Donnerstag sagte. Doch wie realistisch ist ein Weiterbetrieb – und welchen Nutzen hat er? 

„Weitere rund 60 bis 90 Tage zu gewinnen“

Im Kern geht es derzeit um einen sogenannten Streckbetrieb über Dezember hinaus. Denn die Betreiber der Kernkraftwerke hatten sich langfristig auf ein Ende ihrer Laufzeit im Dezember eingestellt – entsprechend wurde der Brennstoff geordert. Im Streckbetrieb würden die Kraftwerke nicht mehr bei voller Leistung laufen, jedoch könnte aus der verbleibenden Reaktivität des Brennstoffs in den Wintermonaten weiter Energie gewonnen werden.

„Mit dem Streckbetrieb ist es grundsätzlich möglich, weitere rund 60 bis 90 Tage zu gewinnen – bei sukzessive abgesenkter Leistung“, sagte Christoph Pistner zu Tagesspiegel Background. Pistner ist Bereichsleiter Nukleartechnik und Anlagensicherheit im Öko-Institut in Freiburg. Für ihn ist „der Streckbetrieb nicht unsicherer als der reguläre Betrieb“. Es sei auch eine übliche Vorgehensweise im Umgang mit Brennstäben. 

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Auch Horst-Michael Prasser, seit 2021 emeritierter Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, hält einen Streckbetrieb für möglich. Dies sei eine „lange erprobte und praktizierte Möglichkeit, um ohne zusätzlichen Kernbrennstoff für bis zu zwölf Wochen weitere Energie zu erzeugen“. Normalerweise sinken die Kosten sogar leicht, wenn Streckbetrieb gefahren wird, sagte Prasser. Das komme für eine Laufzeitverlängerung aber nur in Frage, wenn der betreffende Betreiber nicht schon derart bis zum Datum des Atomausstiegs geplant hat. 

Der deutsche Atomausstieg sieht vor, dass bis zum Ende des Jahres 2022 alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden, darunter Neckarwestheim 2.
Der deutsche Atomausstieg sieht vor, dass bis zum Ende des Jahres 2022 alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden, darunter Neckarwestheim 2.

© dpa/Bernd Weißbrod

Doch welche Effekte hat das für den Gasverbrauch? „Der Nutzen ist sehr begrenzt“, sagte Pistner. Der Gasverbrauch in Deutschland setze sich vor allem aus Wärmeerzeugung in privaten Haushalten oder industriellen Anwendungen zusammen. Auch im Bereich der Stromerzeugung selbst lieferten viele Gaskraftwerke neben Strom auch Wärme, die von den Atomkraftwerken nicht bereitgestellt werden könnte.

„Auch bei den Gaskraftwerken, die nur zur Stromproduktion verwendet werden, gilt: Die Atomenergie hat ein völlig anderes Lastprofil. Sie kann die Funktion der Gaskraftwerke zum sehr kurzfristigen Leistungsausgleich nicht sinnvoll ersetzen.“

Der Aufwand sei dafür immens: Das Atomgesetz müsste geändert werden, da der Ausstieg verschoben werde; Sicherheitsfragen müssten beantworten werden; und letztlich bestehen Haftungsfragen für den Fall eines Unfalls oder einer Havarie. Zuletzt rechnete das Analyseinstitut Energy Brainpool vor, dass eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke nur ein Prozent des russischen Erdgases ersetzen würde.

Unsicherheit beim Brennelemente-Zustand

Auch für Pistner ist auch fraglich, ob der Streckbetrieb nicht ohnehin bereits in die Kalkulierung der Brennstoffmenge bis Dezember eingeplant wurde. Das Resultat wäre: Ein späterer Streckbetrieb ist ausgeschlossen, es sei denn, die Leistung der AKW würde bereits im Sommer reduziert.

Zumindest für Isar 2 aber besteht ein Gutachten von TÜV Süd, welches besagt, dass ein Betrieb auch über Dezember hinaus noch möglich sei. Für Beobachter spricht tatsächlich viel dafür, dass in den verbleibenden Kraftwerken der Streckbetrieb bereits für die Monate bis Dezember eingeplant ist. Es ist schlicht ökonomischer, die Energie der Brennelemente komplett ausnutzen. Zudem waren die sogenannten Reststrommengen von Isar 2, also jene Elektrizitätsmenge, die dem Kraftwerk gemäß Atomgesetz noch zugeordnet ist und verbraucht werden kann, größer als bei den anderen Meilern. 

Schon im März machten Umwelt- und das Wirtschaftsministerium in einem gemeinsamen Prüfvermerk deutlich, dass mit einem Streckbetrieb der Meiler nichts zu gewinnen sei. Die Brennelemente seien weitgehend aufgebraucht. Durch Absenkung der Leistung im Sommer 2022 könne der Betrieb um bis zu 80 Tage fortgesetzt werden. „Insgesamt würde zwischen heute und Ende März 2023 netto nicht mehr Strom produziert“, hieß es. „Die Beschaffung, Herstellung und atomrechtliche Freigabe zur Herstellung neuer Brennelemente für einen funktionsfähigen Reaktorkern dauert im Regelfall 18 bis 24 Monate.“ 

„Es ist lediglich eine politische Akzeptanzfrage“

Prasser hingegen hat technisch keine Bedenken, die Anlagen länger laufen zu lassen. „Die verbliebenen Atomkraftwerke könnten ohne Probleme 60 Jahre oder weit länger sicher laufen, wenn Zulieferketten für die Instandhaltung und der Kompetenzerhalt im Bereich Kerntechnik gesichert wird“, sagte Prasser. Einziges hartes Kriterium für die Außerbetriebnahme ist die Neutronenversprödung des Reaktorkessels. Es sei eine „gute Übergangslösung“ zur Einführung von noch besseren Reaktoren, so Prasser. „Es ist lediglich eine politische Akzeptanzfrage.“ 

Für jene, die an diese längere Nutzung der AKW über mehrere Jahre denken, führt das Bundesamt das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base) zahlreiche Gründe an, die gegen ihren Betrieb sprechen. Sicherheitstechnisch bedeute das etwa, dass man „Hochrisikoanlagen länger betreiben würde, für die die zwingend erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen mit Blick auf die bevorstehende Abschaltung seit 2009 nicht mehr stattgefunden haben“.

Weiter heißt es auf Anfrage: „Das Uran der Brennstäbe stammt ebenfalls zu großen Teilen aus Russland, und ein etwaiger Streckbetrieb mit den noch eingesetzten Brennstäben über wenige Wochen würde energietechnisch keinen wesentlichen Beitrag leisten.“ 

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Pistner sieht den Nutzen im Weiterbetrieb der Kraftwerke auch auf Jahre skeptisch. Da seien nicht nur die Brennelemente, die zumindest zwölf Monate im Voraus bestellt werden müssten. Die Planung für hochqualifiziertes Personal müsste sehr kurzfristig angepasst werden.

Dazu Fragen ihrer Sicherheit: „Die Anlagen noch einmal vollständig auf ihre Sicherheit zu überprüfen, ist erforderlich“, sagt Pistner. Dabei sei die letzte periodische Sicherheitsüberprüfung bereits 2019 fällig gewesen, nur aufgrund des Atomausstiegs wurde darauf verzichtet. Eine Prüfung dauere wiederum Jahre. „Die Anstrengungen wären enorm“, sagte Pistner. 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false