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Wolfgang Schäuble, Politiker der CDU und seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestages fordert mehr Kompromissbereitschaft.

© Thilo Rückeis

Regierungsbildung in Berlin: Miteinander raufen und sich zusammenraufen

Die Deutschen hegen eine starke Abneigung gegen politischen Streit. Auch deswegen finden sie am Ende meistens einen Kompromiss. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Die Regierung, die da vielleicht irgendwann, in einigen Wochen oder Monaten, aus den Sondierungen von Union und SPD herauswachsen wird, scheint von einer Koalition der Warner und Mahner getragen zu werden. Kein Tag vergeht, ohne dass bedeutende Sozialdemokraten ähnlich wichtigen Christdemokraten erklären, was auf keinen Fall verzichtbar ist, und an dem die Christdemokraten nicht vorsorglich betonen, welche gegnerische Position auf gar keinen Fall akzeptiert werden kann.

Beispiele gewünscht? Hier sind sie: Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Malu Dreyer, als rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin im vergangenen Jahr überzeugend bei der Landtagswahl bestätigt, findet, sozialdemokratische Standpunkte müssten vor allem auf den Themenfeldern Arbeit, Soziales, Digitales, Gesundheit, Rente, Steuern und Finanzen, also überall, sichtbar werden. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, bei der eben erwähnten Landtagswahl gegen Malu Dreyer gescheitert, warnt die SPD prompt vor zu weitgehenden Forderungen – das Wahlergebnis der Union bei der Bundestagswahl läge immerhin zwölf Prozentpunkte über dem der Sozialdemokraten. Wenig konsensfreudig klingt auch der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert: Er stuft eine neue große Koalition als existenzgefährdend für seine Partei ein.

Koalitionen müssen immer einen gemeinsamen Nenner suchen

Das und noch viel mehr, was hier nicht alles zitiert werden kann, klingt nicht nach Kompromissbereitschaft. Wolfgang Schäuble, der Bundestagspräsident, ist davon nicht überrascht. „Der Kompromiss hatte in Deutschland noch nie einen guten Leumund“, hat er gerade geschrieben. In angelsächsischen Ländern sei das anders, da habe der harmonische Ausgleich der Interessen bis heute einen guten Klang. Nun kann man davon ausgehen, dass der gewiefte Taktiker Schäuble so etwas nicht als Gemeinplatz formuliert, sondern im Hinblick auf die laufenden Gespräche zwischen Union und SPD als Mahnung versteht, bei einem Wahlergebnis von 20 oder 30 Prozent nicht aufzutreten, als habe man jeweils 100 Prozent der Stimmen an den Wahlurnen erreicht. Aber stimmt die Aussage denn, absolut genommen, überhaupt? Hat der Kompromiss in Deutschland, im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, keinen guten Ruf?

Zweifel sind angebracht. Anders als etwa in Großbritannien oder auch in den Vereinigten Staaten mit ihrem Mehrheitswahlrecht – The winner takes it all – zwingt das Verhältniswahlrecht zum Kompromiss. Noch nie regierte bei uns nur eine Partei das Land, immer waren es Koalitionen, die ganz selbstverständlich einen gemeinsamen Nenner suchten. Während Maggie Thatcher in England nach ihrem Wahlerfolg in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kompromisslos den Einfluss der Gewerkschaften zurückdrängen und die Privatisierung der Wirtschaft vorantreiben konnte, etablierte sich in der Bundesrepublik ein überaus erfolgreiches Wirtschaftssystem des Miteinanders von Unternehmern und Gewerkschaften.

Die Deutschen lieben den Kompromiss geradezu

Der ironisch als „rheinischer Kapitalismus“ apostrophierte Stil der Mitbestimmung und staatlich akzentuierten Steuerung und Anregung von Investitionen bewährte sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Dank der Konjunkturprogramme, Arbeitszeitkonten und des Verzichts auf Kündigungen überstand Deutschland den härtesten ökonomischen Schock seit der großen Depression vor fast 100 Jahren besser als jede andere Industrienation.

Nein, die Deutschen lieben den Kompromiss geradezu. Anhänger der politiktheoretischen Entweder-oder-Fraktion nennen die Deutschen sogar konfliktscheu. In ihrer Abneigung gegen politischen Streit werden die Bundesbürger nur noch von den Schweizern mit ihrer Konkordanzdemokratie übertroffen. Zu dieser Entwicklung beigetragen hat neben dem Wahlrecht vor allem auch der Dualismus zwischen Bund und Ländern, zwischen Bundestag und Bundesrat. Heute ist schon fast vergessen, wie aggressiv der Ton der politischen Auseinandersetzung im Parlament in den frühen fünfziger und in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen ist, als Grundsatzfragen wie die Westbindung, die Wiederbewaffnung oder Annäherung an die Sowjetunion und die Anerkennung von Oder-Neiße-Grenze und DDR auf dem Programm standen.

Vielleicht kann ein neuer Grundsatzkonflikt, etwa um die Einwanderungspolitik, alten Zorn wieder neu entfachen. Wünschen mag man es sich nicht, so wichtig die Klärung von Positionen auch ist. Vermutlich findet sich auch hier am Ende – ein Kompromiss.

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