zum Hauptinhalt
245018_0_44e4b05f.jpeg

© ddp

Nach den Krawallen: Wer ist Griechenland?

Hier wurde die Demokratie erfunden. Nun brennen Barrikaden, die Jugend rebelliert. Das politische System ist erstarrt und verkrustet. Eine Staatskrise droht dennoch nicht.

WAS UNTERSCHEIDET DIE HEUTIGEN PROTESTE VON FRÜHEREN?

Mit einer solchen Orgie der Gewalt, wie sie Athen und ein Dutzend andere Städte des Landes jetzt erschütterten, hatte niemand gerechnet. Die Athener Autonomen, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, machten schon in früheren Jahren die Stadt immer mal wieder unsicher, warfen Schaufensterscheiben ein und fackelten Autos ab. Aber das waren ein paar hundert Chaoten. Jetzt zogen Tausende Vermummte marodierend durch Athen. Neu war auch, dass die Unruhen binnen weniger Stunden auf andere griechische Städte übergriffen, von Thessaloniki und Alexandroupolis im Norden über das westgriechische Patras, die Insel Lesbos im Osten bis in den Süden, nach Chania und Heraklion auf Kreta. Auch damit bekamen diese Ausschreitungen, ausgelöst durch den Tod eines 15-Jährigen, eine neue, beängstigende Qualität. Die Ursachen für die gewaltsamen Proteste liegen vor allem im verkrusteten griechischen Bildungswesen – kein europäisches Land gibt so wenig für Schulen und Universitäten aus wie Griechenland – und in der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Unter den bis zu 25-Jährigen findet jeder vierte Arbeitssuchende keinen Job – auch da hält Griechenland einen traurigen Rekord in der EU.

WIE GEFESTIGT IST DIE DEMOKRATIE IN IHREM MUTTERLAND?

Der Begriff Demokratie geht auf das antike Griechenland zurück und bezeichnete die direkte Volksherrschaft, wenngleich man unter Volk damals noch etwas anderes verstand. Denn nicht jeder hatte politische Partizipationsrechte. Trotzdem ist Griechenland das Geburtsland der Demokratie. Die Antike ist heute noch allgegenwärtig, gerade in Athen. Fast von jedem Punkt der Stadt sieht man den Parthenon, der die Blüte der Athenischen Demokratie symbolisiert, und die Pnyx, den Hügel, auf dem die Athener Volksversammlung tagte.

Aber zwischen damals und dem modernen Griechenland liegen zweieinhalb Jahrtausende. Als die Renaissance die griechische Antike neu aufleben ließ und später die europäischen Philhellenen das Griechentum zu verklären begannen, war Griechenland unter türkischer Besatzung – vier Jahrhunderte, in denen die Griechen von ihren eigenen Wurzeln und von Europa abgeschnitten waren.

Der erste griechische Nationalstaat in der Geschichte entstand nach dem Aufstand der Griechen gegen die türkischen Besatzer und deren Vertreibung 1830 – ein junger Staat also. Und ein Staat, der viele Geburtswehen durchmachte. Die letzte große Krise der griechischen Demokratie ist gar nicht so lange her: die siebenjährige Militärdiktatur von 1967 bis 1974. Seit ihrem Sturz spielt die Armee keine Rolle mehr in der griechischen Politik. Die parlamentarische Demokratie steht auf sicheren Fundamenten. Aber sie kämpft mit inneren Schwächen. Das zeigen auch die jüngsten Unruhen.

Politikern und Parteien fehlt es an der Fähigkeit zum Konsens. Das politische System ist erstarrt und verkrustet, unfähig zur Reform. Die griechische Politik wird seit Jahrzehnten von zwei Familienclans dominiert. Der heutige konservative Premier Kostas Karamanlis ist ein Neffe von Konstantin Karamanlis, der von den 40er bis in die 90er Jahre hinein als Minister, Premier und Staatspräsident amtierte. Sein Gegenspieler, der sozialistische Oppositionsführer Giorgos Papandreou, ist ein Enkel des gleichnamigen Zentrumspolitikers, der nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Regierung bildete, und ein Sohn des Sozialistenführers Andreas Papandreou, der die politische Bühne in den 80er Jahren dominierte. Viele junge Griechen fühlen sich von den gegenwärtigen Parteien und Politikern nicht mehr repräsentiert. Sie rebellieren gegen die verkrusteten, reformresistenten Strukturen.

TRANSPARENCY INTERNATIONAL LISTET DAS LAND ALS DAS KORRUPTESTE DER EURO-ZONE. WO LIEGEN DIE URSACHEN?

Tatsächlich ist die Korruption in Griechenland tief verwurzelt. Und sie ist ein weiterer Faktor für die weitverbreitete Verdrossenheit der Bürger gegenüber Staat und Politik. Stichwort „Fakelaki“: So nennen die Griechen den Umschlag mit Geldscheinen, den man möglichst diskret dem Arzt in der Klinik zusteckt, damit man nicht wochenlang auf einen Operationstermin warten muss, oder den man bei der Behörde über den Schalter schiebt, damit der Antrag endlich bearbeitet wird. Ob bei der Fahrprüfung oder bei der Baugenehmigung, beim Finanzamt oder im maroden griechischen Gesundheitswesen: „Geschmiert“ läuft alles besser. Wohlgemerkt: Mit dem „Fakelaki“ erkauft man sich nicht illegale Geschäfte, sondern man bezahlt für etwas, auf das man ohnehin Anspruch hat.

Auch in der griechischen Politik ist die Korruption tief verwurzelt. Selbst für eine Anstellung bei der Straßenreinigung braucht man ein „mésson“, gute Beziehungen zu einem Politiker. Das gilt erst recht bei der Vergabe von Staatsaufträgen. Kein Wunder, dass Siemens auch in Griechenland hohe Bestechungsgelder zahlte – „zur politischen Landschaftspflege“, wie es intern schamhaft hieß.

Korruption gilt in Griechenland noch vielfach als Kavaliersdelikt. Aber das ist sie nicht. Sie richtet riesige volkswirtschaftliche Schäden an, weil sie ausländische Investoren abschreckt, und sie lähmt jeden Versuch, die eingefahrenen bürokratischen Strukturen aufzubrechen. Schlimmer noch: Sie untergräbt die politische Kultur. Der gegenwärtige Premier Karamanlis ist zwar 2004 mit dem Motto „Null Toleranz gegenüber der Korruption“ angetreten. Weit gekommen ist er aber nicht, wie zahlreiche Skandale seiner Amtszeit zeigen.

1981 TRAT GRIECHENLAND DER DAMALIGEN EG BEI. ABER IST DAS LAND AUCH WIRKLICH IN EUROPA ANGEKOMMEN?

„Pame stin Evropi“, wir fahren nach Europa, sagten die Griechen früher, wenn sie nach Italien oder Deutschland aufbrachen. So als ginge die Reise auf einen anderen, fernen Kontinent. Tatsächlich war Griechenland lange ein Außenseiter in der EG: geografisch, weil es an der Peripherie Europas lag und als einziges Mitgliedsland keine gemeinsamen Grenzen mit den anderen EG-Staaten hatte; aber auch wirtschaftlich, weil es lange das Schlusslicht, das am wenigsten entwickelte Land der Gemeinschaft war. Durch die Erweiterungsrunden der vergangenen zwei Jahrzehnte ist Griechenland geografisch mehr in die Mitte Europas gerückt und ökonomisch aufgestiegen, vor allem Dank der Finanzhilfen aus Brüssel, mit denen zahlreiche Infrastrukturprojekte umgesetzt wurden. 1981 war der Beitritt ein kontrovers diskutiertes Thema, die linke Opposition hätte ihn am liebsten verhindert. Der Sozialistenführer Andreas Papandreou geißelte die Gemeinschaft als „Klub der Monopole“. Inzwischen sind die Griechen mehrheitlich begeisterte Europäer. In Meinungsumfragen sprachen sich 88 Prozent für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus, 78 Prozent für eine gemeinsame Außenpolitik und 70 Prozent für eine EU-Verfassung. Der Euro ist zwar weniger beliebt, 88 Prozent sehen ihn als „Teuro“. Aber die Griechen sollten froh sein, dass sie ihn haben. Denn in der gegenwärtigen Finanzkrise ist die Zugehörigkeit zur Euro-Zone ein wichtiger Stabilitätsanker für Griechenland.

WELCHE ROLLE SPIELT DIE RELIGION?

In anderer Hinsicht aber ist Griechenland immer noch nicht ganz angekommen in Europa. Beispielhaft zeigt sich das an der Rolle der orthodoxen Kirche im politischen und öffentlichen Leben. Die schwarzberockten Gottesmänner sind allgegenwärtig. Ob eine Grundsteinlegung oder eine Einweihung: Immer muss ein Pope, ein orthodoxer Priester, dabei sein. Die orthodoxen Geistlichen segnen Panzer und Kanonen. Ministerpräsident und Kabinett legen nicht etwa vor dem Parlament ihren Amtseid ab, sondern vor dem Athener Erzbischof. Die Orthodoxie ist Staatsreligion in Griechenland. Man merkt auf Schritt und Tritt, dass es in Griechenland keine Reformation gab. Seinen Anspruch auf Mitsprache in gesellschaftlichen und politischen Fragen leitet der Klerus aus der Rolle der Orthodoxie während der 400-jährigen türkischen Besatzung ab. Damals bewahrte vor allem die Kirche die nationale Identität der Griechen.

Doch ihr Einfluss beginnt zu schwinden, vor allem in der jüngeren Generation. Die Gründe liegen auf der Hand: starre Dogmen, mangelndes soziales Engagement und eine nicht enden wollende Serie von Sex- und Korruptionsskandalen, die den moralischen Anspruch des Klerus untergraben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false