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Nach Kölner Urteil: Justiz prüft neuen Fall von Beschneidung

Die deutsche Justiz muss erneut über rituelle Knabenbeschneidung entscheiden. Unterdessen tagt der Ethikrat und will die hitzige Debatte versachlichen – was angesichts konträrer Positionen schwierig werden dürfte. Maram Stern, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, kritisiert, die Diskussion sei "ein gefundenes Fressen für viele versteckte Antisemiten".

Die deutsche Justiz muss erneut über rituelle Knabenbeschneidung entscheiden. Die Staatsanwaltschaft Hof prüft derzeit ein Ermittlungsverfahren gegen den jüdischen Geistlichen David Goldberg, der den Eingriff nach eigener Aussage bis zu 30 Mal im Jahr vornimmt. Goldberg will sich auch von dem umstrittenen Urteil des Landgerichts Köln nicht stoppen lassen, das den Eingriff aus religiösen Gründen für strafbar erklärt hatte. In einer Strafanzeige, die dem Tagesspiegel vorliegt, wirft ein hessischer Arzt dem Rabbi Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen vor. Er beschneide Kinder ohne ärztliche Zulassung, ohne Betäubung und an medizinisch ungeeigneten Orten. Die Staatsanwaltschaft, der die Anzeige bereits seit Donnerstag vergangener Woche vorliegt, will nun die „strafrechtliche Relevanz“ des Falls untersuchen. Der Arzt streitet antisemitische Motive ab.

Unterdessen kommt an diesem Donnerstag der Deutsche Ethikrat zu seiner nächsten Sitzung zusammen. Routine, möchte man meinen – wäre da nicht das Thema: die „Beschneidung von minderjährigen Jungen aus religiösen Gründen“. Hört man sich bei den Mitgliedern des Gremiums um, wird schnell klar, dass es in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften kontrovers zur Sache gehen könnte. Der Eingriff ist unter den Experten ähnlich umstritten wie in der Öffentlichkeit, nachdem das Landgericht Köln ihn Anfang Mai als strafbare Körperverletzung eingestuft hatte.

In einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel hat Maram Stern, Vizepräsident und stellvertretender Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, kurz vor der Sitzung des Ehtikrats Intoleranz und Antisemitismus in der Beschneidungsdebatte beklagt und eindringlich eine rasche Lösung angemahnt. Stern schreibt, es sei "lebensfremd", die Beschneidung unter Strafe zu stellen. "Juden und Muslime könnten sich überlegen, ob sie auf einen zentralen Punkt ihrer religiösen Identität verzichten, sich bestrafen und sogar einsperren lassen, oder aber auswandern. Ein Verbot der Beschneidung käme für viele de facto einem Verbot der Religionsausübung gleich."

Stern kritisierte darüber hinaus den bisherigen Verlauf der Debatte. Er sei überrascht von der Rigidität und dem "Eifer derer, die mit Religion gar nichts am Hut haben und doch wie mittelalterliche Inquisitoren auftreten", schreibt er. Die Debatte sei "ein gefundenes Fressen für viele versteckte Antisemiten, denn sie bewegt sich im politisch korrekten Rahmen."

Im Video: Ein Interview mit einem Arzt zum Thema Beschneidung:

Für Christiane Woopen, Vorsitzende des Ethikrats, ist die Marschrichtung vor der heutigen Sitzung klar. „Ziel der öffentlichen Veranstaltung ist es, die emotionale Debatte zu versachlichen“, sagt die Leiterin der Forschungsstelle Ethik an der Uniklinik Köln.

Deshalb soll die religiös motivierte Beschneidung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Staats- und Verfassungsrechtler kommen ebenso mit Kurzreferaten zu Wort wie Theologen und Mediziner. Und die Betroffenen selbst. Da kommt es zupass, dass sowohl ein Muslim als auch ein Jude dem Ethikrat angehören: Ilhan Ilkilic vom Mainzer Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Leo Latasch, ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Frankfurt am Main. Sie sind explizit gebeten worden, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Ob die Diskussion der Fachleute in einer gemeinsamen Stellungnahme mündet, ist allerdings noch völlig offen – und fraglich. Denn die Positionen liegen gerade auf juristischer und medizinischer Ebene teilweise weit voneinander entfernt.

Reinhard Merkel warnt davor, die Beschneidung zu verharmlosen

Peter Dabrock zum Beispiel spricht sich gegen ein Verbot der Beschneidung aus, befürwortet allerdings vehement eine gesetzliche Regelung. Aus einem seiner Ansicht nach schwerwiegenden Grund: Der stellvertretende Vorsitzende des Ethikrats und Professor für systematische Theologie sieht im Zuge der heftigen öffentlichen Debatte den Rechtsfrieden gefährdet. „Hier ist der Bundestag als Gesetzgeber gefordert.“ So müsse zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit geklärt werden, wie schwerwiegend der Eingriff überhaupt sei. Er frage sich aber schon: „Würde die Weltgesundheitsorganisation die Abtrennung der Vorhaut gerade für Erwachsene befürworten, wenn sie hoch gefährlich ist?“

Dieses Argument würde Reinhard Merkel sicher nicht gelten lassen. Er warnt davor, die Beschneidung zu verharmlosen. „Der Eingriff geht zwar sehr selten, aber doch gelegentlich mit gravierenden Komplikationen einher, Studien belegen diese Gefahr“, sagt der Hamburger Strafrechtler und Rechtsphilosoph. Zudem sei der Schnitt ohne Betäubung für die Kinder schmerzhaft und qualvoll. Auch Juden in den USA und Israel würden sich deshalb immer häufiger gegen eine Beschneidung aussprechen. Und Merkel hält diesen Ritus für ungerechtfertigt, falls man ihn mit Hinweis auf die Religionsfreiheit begründete. „Es wäre grotesk, wenn der Gesetzgeber einer einzelnen Glaubensgemeinschaft ein autonomes Recht einräumen würde, in den Körper anderer Menschen, zumal Kindern, einzudringen.“

Bildergalerie: Die Debatte um die Beschneidung

Merkel weiß aber auch, dass das Thema eine erhebliche politische Dimension hat. Die Bundesrepublik müsse alles daran setzen, mit jüdischen Belangen sorgsam und sensibel umzugehen. Da gebe es überhaupt keine Frage. „Doch reicht das im 21. Jahrhundert aus, um an einem, jedenfalls für die betroffenen Kinder, barbarischen Ritual festzuhalten?“

Leo Latasch kann da wohl nur mit dem Kopf schütteln. Er kennt sich als Mediziner, Fachmann für Schmerztherapie und Jude mit Beschneidungen aus, weiß über Vor- und Nachteile zu berichten. Es könne in Ausnahmefällen zwar zu Komplikationen kommen. Doch Studien, die eine immense Gefahr für Leib und Wohl der betroffenen Kinder beweisen wollen, hält er für „unseriösen Humbug“. Dennoch hätte er kein Problem damit, wenn die jüdischen Beschneider, die Mohelim, medizinische Prüfungen ablegten, Hygienevorschriften verbessert und lokale Betäubungsmethoden mehr als bisher angewendet würden – nicht als Anweisung, sondern als Empfehlung. Denn von einer gesetzlichen Regelung hält Latasch, der auch Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden ist, herzlich wenig. Seiner Überzeugung nach würde das bedeuten, die Religionsfreiheit in unzulässiger Art und Weise einzuschränken. „Es wäre das erste Mal, dass sich Bundesregierung und Bundestag in die inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft einmischen würden. Das kann, das darf nicht sein.“ Insofern sei ihm sehr an einer Versachlichung der sich hochschaukelnden Debatte gelegen. Vielleicht gelingt das ja dem Ethikrat – trotz aller inhaltlicher Differenzen.

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