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Jens Spahn und Angela Merkel.

© imago/Jens Jeske

Wahlforscher Matthias Jung: "Parteien müssen sich an gesellschaftliche Veränderungen anpassen"

Ein politischer Rollback würde nur zu einem wachsenden Bedeutungsverlust der CDU führen - ähnlich wie in der SPD, analysiert Wahlforscher Jung. Ein Interview.

Führende Christdemokraten äußern sich nach dem angekündigten Rückzug von Angela Merkel vom CDU-Vorsitz besorgt über den Markenkern der CDU. Jens Spahn fordert, man müsse den Kern christlich-demokratischer Politik formulieren. Friedrich Merz sagte in Berlin, die CDU müsse sich Klarheit über ihren Markenkern verschaffen. Gibt es das überhaupt – den Markenkern der CDU?

Das mit dem Markenkern passt für politische Parteien überhaupt nicht. Es verkennt, dass Gesellschaften, Wählerschaften und logischerweise auch Parteien einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen sind und es da nichts Statisches gibt. Mal davon abgesehen, passt der Begriff nur bedingt selbst für klassische Markenprodukte wie Persil oder Tempo. Denn auch diese verändern im Laufe der Zeit nicht nur ihre Vermarktung, sondern auch ihre Produkteigenschaften. Selbstverständlich muss sich eine Partei ihren eigenen Grundwerten treu bleiben, diese müssen aber jeweils unter den veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen neu konkretisiert werden.

Ein Zurück zu dem, was angeblich immer schon richtig war, führt zwangsläufig zu einer zunehmenden Entfremdung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit zu einem wachsenden Bedeutungsverlust. Was diejenigen meinen, die diesen Begriff jetzt wieder strapazieren, heißt einfach nur, dass sie eine andere programmatische Ausrichtung der CDU wollen und zwar eine, die sich sehr stark an der Vergangenheit orientiert.

Im konservativen Verständnis war es ein Fehler, dass die CDU die Wehrpflicht ausgesetzt hat, genauso der Ausstieg aus der Kernenergie, das eher tolerierende Verhältnis zu gesellschaftlichen Themen wie der Homoehe – wenn man das alles zurück schraubt, gewinnt die CDU dann wieder Wahlen?

Was an der Wehrpflicht konservatives Gedankengut sein soll, erschließt sich mir nicht. Sie ist letztlich ein Produkt der französischen Revolution und passte in Zeiten des Kalten Krieges zu einem Kriegsbild, bei dem es um den Aufmarsch von Massenheeren ging. Unabhängig davon, dass wir schon lange nicht mehr in der Lage waren, eine ausreichende Wehrgerechtigkeit herzustellen, eignet sich eine Wehrpflichtarmee überhaupt nicht für die heutige Sicherheitspolitik mit weit entfernten Einsatzgebieten und hochspezialisierten Anforderungsprofilen an die Soldaten. Auch das Thema Homoehe ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich Parteien an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen müssen. Oder sollte die CDU heute zur Sicherung ihres Markenkerns wieder zur Strafbarkeit homosexueller Handlungen zurückkehren, wie das jahrzehntelang fester Bestandteil ihrer Programmatik war?

Jens Spahn fordert, die Debatte über die Flüchtlingspolitik zu Ende zu bringen, und sie nicht zu vertagen wie die SPD die Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 – hat die CDU da Nachholbedarf?

Der Streit über die Flüchtlingspolitik innerhalb der beiden Unionsparteien und zwischen ihnen ist mit Sicherheit eine der Hauptursachen, warum sich CSU und CDU heute in einem Stimmungstief befinden. Insofern kann ich da keine Defizite an Debatten feststellen, ganz im Gegenteil. Die Debatten der letzten drei Jahre haben zu einer Unmenge gesetzlicher Neuregelungen geführt, weshalb wir heute in Deutschland das restriktivste Asyl- und Ausländerrecht haben, das das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht zulässt. Dass es dabei in den Bundesländern und den Kommunen Vollzugsdefizite gibt, ist keine Frage, aber diese sind nicht durch Debatten beseitigbar.

Wahlforscher Matthias Jung.

© picture alliance / Michael Kappe

Angela Merkel hat durch ihre asymmetrische Wahlkampfführung Erfolge erzielt – sie nahm der SPD einfach die Themen weg. Aber hat sie damit nicht das Wesen, den Kern der CDU, preisgegeben?

Das ist eine sehr verkürzte Darstellung einer sehr erfolgreichen Wahlkampfführung 2009 und 2013. Die eigentliche Kritik richtet sich ja nicht gegen die Ausrichtung des Wahlkampfs, bei dem man versucht hat, die SPD nicht bei denjenigen Themen anzugreifen, bei denen die SPD einen mehrheitlichen Rückhalt in der Bevölkerung hatte, sondern sie richtet sich gegen die programmatische Modernisierung der CDU, die Angela Merkel seit der beinahe verlorenen Bundestagswahl 2005 betrieben hat.

Brauchen wir in der Politik mehr Konfrontation? Klar ist doch, dass sowohl Friedrich Merz als auch Jens Spahn zu den Grünen vor allem viel konfrontativer stehen würden als Angela Merkel?

Ich glaube nicht, dass ein konfrontativer Politikstil, wie wir ihn aus den Zeiten von Franz-Josef Strauß und Herbert Wehner kennen, und den viele alte Parteimitglieder nicht nur in der CDU heutzutage vermissen, den Bedürfnissen eines Großteils der Wählerschaft entspricht. Auch objektiv mangelt es unserer Gesellschaft eher an einem konsensorientierten Zusammenführen von Ressourcen und Konzepten als an konfrontativen Diskursen.

Sie haben einmal argumentiert, der CDU seien so viele ihrer traditionellen Wähler in den letzten Jahren weggestorben, dass nur die politische Öffnung unter Angela Merkel überhaupt die Wahlerfolge gebracht habe – was denn nun? Mehr Markenkern oder mehr Profillosigkeit?

Ganz allgemein wird Politik auch von vielen professionellen Beobachtern und Gestaltern nicht ausreichend in ihrer Dynamik gewürdigt. Die Wählerschaft ist heute eine ganz andere als zu Zeiten eines Helmut Kohl oder eines CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz. Aufgrund des großen Erfolgs, den die Union schon immer bei den älteren Wählern hatte, leidet sie auch entsprechend stark unter deren hoher Mortalität. Pro Legislaturperiode sterben der CDU/CSU mehr als 1 Million ihrer Wähler weg. Diese älteren Wähler verfügten über eine in früheren Zeiten gewonnene politische Sozialisation. Dieses ältere Politikverständnis verschwindet damit auch kontinuierlich mit dem Wegsterben dieser Wählerschichten. Wenn die Union gute Ergebnisse bei Wahlen erzielen will, muss sie in jeder Legislaturperiode diese Mortalitätsverluste durch das Hinzugewinnen neuer Wählerschichten ausgleichen, die naturgemäß jünger sind und ein moderneres Politikverständnis haben.

Die CDU/CSU erreichte bei der Bundestagwahl 2017 mit 32,9 Prozent ein historisch schlechtes Ergebnis – alles nur wegen der Flüchtlingsfrage – oder vielleicht doch wegen Profillosigkeit?

Natürlich hat die mit der Flüchtlingsfrage einhergehende Polarisierung dem präsidentiellen Image der Kanzlerin und damit einer ihrer Erfolgskomponenten sehr geschadet. Vor allem aber hat ihr und damit der Attraktivität der Union insgesamt die massive Kritik insbesondere durch den CSU-Vorsitzenden geschadet. Wie soll man unvoreingenommenen Wählern erklären, dass sie die CDU und Merkel wählen sollen, wenn der CSU-Vorsitzende der Kanzlerin eine „Herrschaft des Unrechts“ vorwirft.

Jens Spahn schreibt in der FAZ, die CDU müsse keineswegs nach rechts rücken – ja, was denn dann?

Das weiß ich auch nicht. Wenn der Vorwurf an Merkels Modernisierungskurs lautet, dass sie die CDU nach links gerückt habe, muss ja eine Kurskorrektur bedeuten, dass die CDU weiter nach rechts rücken muss. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.

Er sagt auch, die Bürger erwarteten Führung. Stimmt das? Brauchen wir mehr Macron, mehr Schröder, mehr Thatcher, mehr Putin, mehr Orban?

Ob die Qualität der Politik objektiv besser wird, wenn schneller entschieden wird und wieder mehr „Basta“ ertönt, wage ich zu bezweifeln. Aber sicher sehnen sich viele Menschen danach - besonders im bürgerlichen Publikum. Sie wollen, dass weniger Streit und Zweifel, mehr rhetorische Perfektion, Glanz und Charisma das politische Erscheinungsbild prägen. Pragmatismus fasziniert nicht. Letztlich kann aber auch durch mehr Glanz und Gloria keine Gewissheit und Sicherheit vermittelt werden in Zeiten, in denen es nur wenige Gewissheiten und wenig Sicherheit gibt.

Rein wahlanalytisch betrachtet – steht hinter der ganze Diskussion nicht einfach die Sehnsucht nach der guten, alten Zeit, in der wir klare Blöcke hatten und nicht den ganzen Ärger mit der Globalisierung?

Die größte gesellschaftliche Veränderung, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist eine vielfältige Entideologisierung. Da ist zum einen der Bedeutungsverlust der Religionen mit ihrer Sinn stiftenden und Orientierung gebenden Wirkung. Dann der Wegfall des Ost-West-Konflikts, der durch seinen Antikommunismus gerade der Union geholfen hat, viele gegensätzliche Interessen ihrer Wählerschaft zu relativieren. Und last but not least der Bedeutungsverlust der gewerkschaftlich orientierten Arbeiterbewegung, hinter der die Traditionskompanien in der SPD hertrauern, weshalb ihr der Anschluss an die moderne gesellschaftliche Realität immer mehr verloren geht.

Droht der CDU jetzt ein ähnlicher Niedergang wie der SPD?

Das könnte durchaus sein, wenn es zu einem programmatischen Rollback in der CDU kommt. Gerhard Schröder hatte ja versucht, aus der Regierung heraus der SPD eine programmatische Modernisierung zu verpassen, ohne dass er dies ausreichend in der SPD verankert hat. Ziel Schröders war es, die SPD stärker in die politische Mitte zu führen, eben dort, wo sich immer mehr Wähler befinden. Diesen Kurs hat die SPD immer halbherziger mitgetragen und Schröder zunehmend demontiert, was dann auch seine hohe Popularität bei den Wählern immer mehr beschädigte.

Die SPD hat in der Folgezeit gemeint, dass sie durch eine Rückkehr zur vormodernen Programmatik die Partei wieder zur alten Stärke führen kann. Das Gegenteil ist eingetreten. Von Schröders Modernisierung ist nichts mehr zu sehen in der SPD, aber eben auch nichts mehr von den Wählerschichten, die er für die SPD erschlossen hatte. Das könnte in der Tat eine Blaupause dafür sein, was wir in der CDU jetzt erleben. Der Parteitag im Dezember wird hierfür eine wichtige Weichenstellung vornehmen.

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