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Ein Kind wehrt sich mit ausgestreckten Armen. (Symbolbild)

© imago images/blickwinkel

„Hier ist ein Kipppunkt erreicht“: Polizei registriert mehr Fälle von Kindesmissbrauch

Hat die Pandemie zu mehr sexualisierter Gewalt geführt? Das ist statistisch nicht so leicht zu beantworten. Experten sehen aber zumindest Hinweise.

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, und der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sprachen am Mittwoch in Berlin von besorgniserregenden Zahlen, äußerten sich aber zurückhaltend, inwieweit die Einschränkungen der Corona-Pandemie für die Zunahme verantwortlich waren.

Am stärksten war der Anstieg mit 53 Prozent bei der sogenannten Kinderpornografie, also der Herstellung und Online-Verbreitung von Bildern und Filmen von sexueller Gewalt gegen Kinder. 2020 wurde laut der jährlichen Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik in 18.761 Fällen Anzeige erstattet, gegenüber 12.262 Fällen im Vorjahr.

Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen im Internet erhält das Bundeskriminalamt überwiegend von den zuständigen Behörden in den USA. Im Rahmen der Missbrauchsverfahren in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster gelang der Polizei zudem die Identifizierung zahlreicher Täter.

Die Zahl der Missbrauchsopfer ist 2020 gegenüber 2019 ebenfalls gestiegen, um knapp 1.000 auf insgesamt 16.921 Kinder unter 14 Jahren. Damit setzt sich der Trend aus den Vorjahren fort. In der Kriminalstatistik werden nur die polizeilich ermittelten Fälle erfasst, das Dunkelfeld sei weit größer, erläuterte BKA-Präsident Münch.

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Zu möglichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sagte Münch, man könne keinen direkten Zusammenhang zwischen den höheren Opfer- und Fallzahlen und der Pandemie herstellen. Die Einschränkungen während der Lockdowns könnten aber Täter begünstigen und es den Opfern noch schwerer machen, Hilfe zu bekommen.

Konsum von Missbrauchsdarstellungen gestiegen

Internationale Untersuchungen zeigen einen deutlichen Anstieg der sexuellen Ausbeutung von Kindern online. Europol zufolge ist im ersten Corona-Lockdown der Konsum von Missbrauchsdarstellungen in Europa um 30 Prozent gestiegen. Der EU-Kommission liegen ebenfalls Zahlen über einen drastischen Anstieg der Verdachtsfälle sogenannter Kinderpornografie vor. Ein Drittel der Websites zeigen der britischen Internet Watch Foundation (IWF) zufolge Vergewaltigungen oder Folter, 55 Prozent der abgebildeten Kinder sind jünger als zehn Jahre.

[Lesen Sie auch: So ticken die Ermittler des Morddezernats (T+)]

Johannes-Wilhelm Rörig, Bundesbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

© Kay Nietfeld/dpa

Der Missbrauchsbeauftragte Rörig sagte, die Zahlen seien „unerträglich“. Sie bedeuteten zehntausendfaches Leid, unbeschreiblichen Schmerz, Ohnmacht, Ekel und Angst. Er warnte, die Ermittler kämen insbesondere bei der Flut von Missbrauchsdarstellungen im Internet nicht nach und forderte eine massive Personalaufstockung bei Polizei und Justiz: „Hier ist ein Kipppunkt erreicht“, warnte Rörig. Wegen Personalmangels könnten Durchsuchungen nicht ausgeführt, Datenträger nicht entschlüsselt, Akten nicht bearbeitet werden.

Dunkelziffer in Corona-Pandemie höher

Rörig bekräftigte seine Forderung, Bund und Länder müssten den Kampf gegen Missbrauch zur Chefsache machen, wie es Nordrhein-Westfalen nach den Fällen von Lügde, Münster und Bergisch Gladbach vormache.

Bundesjustiz- und -familienministerin Christine Lambrecht (SPD) verwies auf die im Juli in Kraft tretenden Strafverschärfungen für Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern sowie die Verfolgung krimineller Handelsplattformen, die der Bundestag Lambrecht zufolge noch beschließen will.

Auch die Zahl anderer erfasster Gewalttaten gegen Kinder ist im vergangenen Jahr gestiegen. Misshandlungen, also körperliche und psychische Gewalt ohne sexuelles Motiv, nahmen 2020 laut Statistik um zehn Prozent auf knapp 5.000 Fälle zu .

Die Dunkelziffer sei insbesondere in der Corona-Pandemie deutlich höher, mahnte Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers im Gespräch mit den Funke-Zeitungen und forderte mehr Unterstützung für überforderte Eltern. 152 Kinder wurden laut der Kriminalstatistik getötet, 40 Kinder mehr als 2019. 115 Opfer waren jünger als sechs Jahre. 134 Kinder überlebten einen Tötungsversuch. (epd)

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