zum Hauptinhalt
Joe Biden wird für seinen Truppenabzug aus Afghanistan scharf attackiert.

© Imago Images/MediaPunch

„Demütigung, Schande, monumentales Versagen“: Presse geht hart mit US-Präsident Biden ins Gericht

Der Siegeszug der Taliban in Afghanistan wird vor allem Joe Biden angelastet. Selten ist ein US-Präsident so heftig kritisiert worden. Eine Presseschau.

Der internationale Einsatz in Afghanistan ist gescheitert. Nach dem schnellen Abzug der US-Truppen konnten die Taliban in kürzester Zeit die Macht in dem Land am Hindukusch mit seinen rund 38 Millionen Einwohnern wiedererlangen. In der nationalen und internationalen Presse sieht man den Schuldigen für das Chaos und das Comeback der Islamisten im Weißen Haus in Washington: Joe Biden.

Die Entwicklung Afghanistan sei ein Drama für die Frauen im Land und ein weiteres schlechtes Signal für die Verbündeten der USA auf der ganzen Welt. Die Demütigung werde noch lange nachwirken – und verheiße nichts Gutes für den Rest seiner Präsidentschaft. Ein Überblick.

„Wall Street Journal“ (USA): „Präsident Biden erklärte der Welt am Montag, dass er seine Entscheidung, sich schnell aus Afghanistan zurückzuziehen, nicht bereue. Auch nicht die chaotische und inkompetente Art und Weise, wie der Rückzug ablief. (...) Biden weigerte sich, die Verantwortung für den verpfuschten Rückzug zu übernehmen, und gab anderen die Schuld. Er gab Donald Trumps Friedensabkommen mit den Taliban die Schuld und behauptete erneut fälschlicherweise, er sitze in der Falle. Er gab seinen drei Vorgängern die Schuld dafür, sich nicht aus Afghanistan zurückgezogen zu haben.

Er beschuldigte die Afghanen, nicht hart genug zu kämpfen, ihre Anführer, zu fliehen, und sogar die Afghanen, die uns geholfen hatten, nicht früher das Land verlassen zu haben. Die einzige Gruppe, die er auffälligerweise nicht beschuldigte, waren die Taliban, die einst Osama bin Laden beherbergten und möglicherweise seinen terroristischen Nachfolger schützen. (...)

Wir hatten gehofft, dass Herr Biden etwas Verantwortung übernehmen und erklären würde, wie er dieses Chaos beheben will. Er hat nichts von alledem getan und damit deutlich gemacht, dass er selbst der Hauptverantwortliche für diese unnötige amerikanische Kapitulation ist. Das verheißt nichts Gutes für den Rest seiner Präsidentschaft. (...) Während wir diese Zeilen schreiben, suchen die Schurken der Welt nach Möglichkeiten, ihm eine Chance zu geben, eine ähnliche Rede über andere Teile der Welt zu halten.“

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

„Jyllands-Posten“ (Dänemark): „Entgegen Bidens Behauptungen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die afghanische Armee nicht bereit gewesen wäre, den Kampf gegen die Taliban aufzunehmen, wenn sie die Unterstützung – insbesondere aus der Luft – von den USA und ihren Verbündeten gehabt hätte.

Es sollte keine unüberwindbare Aufgabe für Kampfsoldaten sein, die ihren Vorgesetzten vertrauen, Männer in Pickups zu besiegen. Aber wenn der afghanische Präsident Ashraf Ghani kampflos kapituliert und als einer der ersten nach Tadschikistan flüchtet, ist das nicht nur erbärmlich, sondern auch eine Folge des monumentalen Versagens von Präsident Biden.“

Mitglieder der Taliban gehen durch Kabul.
Mitglieder der Taliban gehen durch Kabul.

© XinHua/dpa

„Neue Zürcher Zeitung“ (Schweiz): „Die Armee hat hingeschmissen, zur befürchteten Schlacht um Kabul ist es nicht gekommen. Man mag darüber erleichtert sein. Doch dass die Amerikaner und ihre Verbündeten Millionen von Afghanen, die nicht unter islamistischer Herrschaft leben wollen, einfach im Stich lassen - das ist eine Schande und ein globales Desaster. Niemand weiß mehr, wofür die Amerikaner einstehen. Der internationale Dschihadismus triumphiert.

Wie geht es weiter? Die Taliban haben klargemacht, dass es eine Übergangsregierung nicht geben wird, sie erwarten die ,komplette Machtübergabe'. (...) Am Montag hieß es, schon bald werde das ,Islamische Emirat Afghanistan' wieder ausgerufen, das die Taliban während ihrer ersten Regierungszeit 1996 bis 2001 gegründet hatten. Eine Rückkehr zum Steinzeit-Islamismus ist damit nicht ausgeschlossen, ebenso wenig, dass das Land wieder zur Schutzmacht internationaler Terrorgruppen wie der Al Qaida und dem IS wird.“

„The Times“ (Großbritannien): „Die Machtübernahme durch die Taliban wird für die afghanische Bevölkerung, insbesondere für die Frauen, Leid und Unterdrückung zur Folge haben. Sie wird einen erneuten Flüchtlingsstrom nach Pakistan und in andere Nachbarstaaten auslösen und ein Wiederaufleben des islamistischen Terrorismus nach sich ziehen, mit dem die US-geführte Intervention im Jahr 2001 ursprünglich gerechtfertigt worden war. Und sie wird das Vertrauen der freien Welt und von Dissidenten in autokratischen Staaten in die amerikanische Führung beschädigen. (...)

Joe Bidens Politik weist Kontinuitäten zu jener der Trump-Regierung auf, die im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban ausgehandelt hat. Doch dieses Abkommen verlangte von den Taliban, sich auf Verhandlungen einzulassen, die Angriffe auf US-Truppen einzustellen und die Verbindungen zu Al Qaida zu kappen.

Biden verlangt von ihnen nichts; der Rückzug ist bedingungslos. Ein vom Weißen Haus am Sonntag veröffentlichtes Foto zeigt Biden, wie er allein dasitzt und die Berichte aus Afghanistan verfolgt. Die unterschwellige Botschaft lautet, dass nichts zwischen den Taliban und ihrem Ziel steht, einen theokratischen Staat zu errichten.“

[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung.]

„Magyar Nemzet“ (Ungarn): „Aus der Endlosschleife des Internets dringen die Worte (des US-Präsidenten) Joe Bidens vom letzten Juli an unser Ohr: Nein, es stimmt nicht, dass die afghanische Regierung zusammenbrechen wird; nein, es stimmt nicht, dass die Machtübernahme der Taliban unvermeidlich ist. (...)

Dieser alte Mann im Ausgedinge hatte keine Ahnung, was ihn und die Welt in Afghanistan erwarten würde. (...) Das hässliche Desaster erinnert an das Fiasko von Vietnam und die 1975 in Saigon abhebenden letzten amerikanischen Helikopter. Es wird an Biden kleben bleiben wie Kot am Schuh, wie Watergate an Nixon, wie die pikanten Geheimnisse des Oval Office an Bill Clinton.“

„Dziennik Gazeta Prawna“ (Polen): „Afghanistan ist ein weiteres schlechtes Signal für die Verbündeten der USA auf der ganzen Welt. Nicht nur für Länder in der Krise, sondern auch für Länder an der Ostflanke der Nato (Polen und Rumänien) und in Südostasien (Taiwan und die Philippinen). Unter dem früheren US-Präsidenten Donald Trump zogen die Amerikaner ohne Konsultationen mit ihren Bündnispartnern ihre Hilfe für die in Syrien kämpfenden Kurden ab. Irak überließen sie der Gnade der schiitischen Milizen.

In unserer Region haben die USA den Streit um die (deutsch-russische Pipeline) Nord Stream 2 kampflos aufgegeben. Kein bedeutender Politiker der USA wird kommende Woche nach Kiew reisen, um an der Feier zur 30-jährigen Unabhängigkeit der Ukraine teilzunehmen. Um Russland nicht zu ärgern. Ein ähnliches Desinteresse herrscht auch im Verhältnis zu Belarus. Donald Trump hatte den Rückzug Amerikas begonnen. Joe Biden verkündete: „America ist zurück“. Aber momentan sieht es mehr nach Rückzug aus als nach einer Rückkehr ins Spiel.“

„El País“ (Spanien): „Jede politische Analyse verblasst angesichts der Lage, die sich nun für die Afghanen ergibt, die nicht in diese Flugzeuge steigen können. Insbesondere für die Frauen im Land. Dringend erforderlich sind operative und logistische Vorkehrungen für die Versorgung derjenigen, die wohl bald unter der Gewalt leiden werden, wenn die Taliban ihre Gnadenfrist beenden, in der es ihnen offenbar vorrangig darum geht, die Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne sich zu rächen. (...)

Konkrete Hilfszusagen der Europäischen Union und der USA sind dringend erforderlich. Der vollständige Abzug aus Afghanistan war ein riskantes Unterfangen, bei dem die USA ihr internationales Ansehen als militärischer Partner aufs Spiel gesetzt haben. Für die Afghanen ging es sogar um ihr Leben. Beide sind der Großzügigkeit einer Gruppe von Fanatikern ausgeliefert.“

[Alle aktuellen Nachrichten zur Entwicklung in Afghanistan können Sie hier in unserem Newsblog nachlesen.]

„De Standaard“ (Belgien): „Die Einnahme Kabuls durch die Taliban ist eine Demütigung für US-Präsident Joe Biden, die noch lange nachwirken kann. Der Mann, der das Land erfolgreich aus der Coronakrise zu führen schien und lange erwartete gesellschaftliche Reformen in Gang setzte, steht nun im Zentrum kritischer Fragen, wie sich die USA von einer außer Kontrolle geratenen afghanischen Miliz ausspielen lassen konnten. (...)

Es wäre falsch, Biden als den einzigen Verantwortlichen darzustellen. Sein Vorgänger Donald Trump hatte den Beschluss gefasst, den Krieg in Afghanistan rasch zu beenden. Aber die Verantwortung für das Chaos, das wir in den vergangenen Tagen erlebt haben, liegt durchaus bei der heutigen amerikanischen Regierung.

Für Biden ist es nun wichtiger denn je, dass seine inländischen Vorhaben erfolgreich sind. Wenn er damit punkten kann, besteht die Chance, dass die Wähler das Kapitel Kabul rasch umblättern. Die kommenden Monate dürften entscheidend sein für den Erfolg seiner Präsidentschaft.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„De Volkskrant“ (Niederlande): „Die große Enttäuschung nach 20 Jahren westlicher Intervention besteht auch in der Erkenntnis, dass man einem konservativen und ethnisch zerstrittenen Land offensichtlich keine moderne Demokratie auferlegen kann, wenn es dazu nicht bereit ist. Das war auch die Schlussfolgerung von US-Präsident Joe Biden, dem man nun vorwirft, seine Truppen zu schnell abgezogen zu haben.

Die Frage ist, ob diese Entwicklung angesichts der schwachen Position der afghanischen Regierung und der Weigerung der Taliban, über eine Teilung der Macht zu verhandeln, nicht vorhersehbar gewesen wäre. Für die Afghanen kann man jetzt nur noch hoffen, dass die Taliban mit ihrer gemäßigteren Tonart tatsächlich internationale Anerkennung und nationale Legitimität anstreben.“

„Nesawissimaja Gaseta“ (Russland): „Der afghanische Präsident Aschraf Ghani hat die Unterstützung großer ausländischer Staaten weitgehend verloren. Es ist unklar, wie sich die Beziehungen zwischen diesen Ländern und den Taliban entwickeln werden. Es wird vermutet, dass die Radikalen eine stillschweigende Zustimmung aus China erhalten haben, die bald öffentlich und ausgesprochen werden könnte. Angeblich ist China bereit, eine solche Herrschaft in Afghanistan im Gegenzug für die Nichteinmischung in interne chinesische Angelegenheiten zu unterstützen. Mit anderen Worten: Peking setzt darauf, dass Afghanistan keine uigurischen Separatisten beherbergt.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Nichteinmischung ist ein wichtiges Thema, das immer dann zur Sprache kommt, wenn von Afghanistan die Rede ist. Kann man wirklich ignorieren oder stillschweigend akzeptieren, was in einem anderen Land geschieht, wenn dort radikale Islamisten an die Macht kommen? Natürlich gibt es den Grundsatz der Souveränität. Jede Nation wählt ihren eigenen Weg. Die Taliban hätten die Kontrolle über Afghanistan nicht erlangt, wenn sie nicht die Unterstützung der Bevölkerung gehabt hätten. Jahrelang haben andere Regierungen es nicht geschafft, die Afghanen davon zu überzeugen, dass Radikalismus bösartig ist.“ (dpa, lem)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false